Wenn die Wälder rauschen

(Bergets Sånger 2)


Bald kam die Straße in Sicht, die zu seinem Heimatort Bergetssånger führte. Es war nicht mehr allzu weit, noch etwa sieben Kilometer.

Plötzlich trat ein großer Schatten aus dem Dickicht am Straßenrand hervor.

Scheiße, eine Elchkuh.

Juhán bremste und wich aus, aber zu seinem Entsetzen löste sich aus der großen Silhouette noch eine kleinere und fiel auf die Straße. Juhán riss das Steuer herum und landete mit einem Rumms in einer Schneewehe am Straßenrand.

»Oh, verdammt«, murmelte er schwer atmend vor sich hin und brauchte einen Moment, um wieder richtig zur Besinnung zu kommen.

Er drehte sich um. Die Elchkuh spazierte völlig desinteressiert an der Karambolage davon. Der kleine Schatten, eindeutig ein Mensch – ein Mann –, rappelte sich auf.

»Bist du okay?«, rief Juhán ihm zu.

»Ja, alles in Ordnung. Und du?«

Was für eine schöne Stimme, durchfuhr es Juhán unvermittelt. So warm und tief.

»Mir geht’s auch gut. Ich mache mir da eher Sorgen um meinen Motorschlitten.«

Er wollte den Mann sehen, zu dem diese Stimme gehörte und außerdem sichergehen, dass er wirklich unverletzt war, also stand er schwankend von seinem Motorschlitten auf und holte die Taschenlampe, die er im Winter immer bei sich trug, aus seiner Jackentasche. Er schaltete sie ein und leuchtete in Richtung des Mannes, der abwehrend die Hände hob.

»Lass das bitte.«

»Sorry.« Juhán trat etwas näher. »Aber ... warum zur Hölle läufst du denn um die Uhrzeit hier so allein herum? Und dann auch noch dunkel angezogen? Dass das gefährlich werden kann, muss ich dir ja nun nicht noch mal sagen.«

Der andere seufzte und hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet, halb von Juhán abgewandt. »Ich gehe immer nur nachts raus. Ich will nicht gesehen werden.«

»Warum denn das?«, fragte Juhán verdutzt.

»Weil ich die Leute nicht erschrecken möchte.«

»Was?« Juhán lachte auf. »Was redest du denn für einen Quatsch?«

Endlich wandte sich der Kerl ihm zu, wenn auch zaghaft. Er hatte ein Gesicht, wie Menschen es hatten: Augen, Nase, Mund. Und trotzdem war irgendetwas anders. Die Proportionen. Seine äußeren Augenwinkel machten einen Schwenk nach unten, was ihm einen traurigen Blick verlieh. Seine Wangenknochen wirkten ein wenig eingefallen; den Rest verbargen eine Mütze und ein kurzer, dunkelblonder Vollbart.

Juhán war fasziniert von diesem so anderen Gesicht. Sein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig und er merkte zu spät, dass er starrte.

»Genau das meine ich«, erklärte der andere missmutig. »Ich bin hässlich und die Leute starren. Ich ertrage das nicht. Deshalb gehe ich nur im Dunkeln spazieren.«

»Hässlich?«, erwiderte Juhán regelrecht bestürzt. »Aber das stimmt doch gar nicht.«

»Oh, bitte, jetzt lüg mich doch nicht noch an. Das macht es nur schlimmer.«

»Ich lüge nicht.« Der Vorwurf machte Juhán betroffen und er runzelte die Stirn. »Klar hast du kein Allerweltsgesicht, aber das hat doch mit Hässlichkeit nichts zu tun. Und vor allem solltest du deswegen nicht in der Dunkelheit herumlaufen und schlimmstenfalls dein Leben riskieren.«

Seufzend steckte er die Taschenlampe wieder ein, weil das Licht dem anderen offenbar unangenehm war, auch wenn er selbst ihn gern noch ein wenig näher betrachtet hätte. Aber natürlich wollte er nicht, dass sich der Kerl wie im Zoo fühlte.

»Wie heißt du?«

»Peter«, kam nach kurzem Zögern zurück.

»Hej, Peter. Ich bin Juhán. Hör mal, ich – oh, schau!« Für den Augenblick vergaß er, was er hatte sagen wollen, und wies in Richtung Himmel, wo sich plötzlich grünlich schimmernd Polarlichter zeigten. »Vielleicht die letzten für diese Saison.«

»Ich bin immer traurig, wenn es bis zum Herbst keine mehr gibt«, erwiderte Peter und Juhán hörte ihn lächeln.

»Nicht wahr? Ich mag auch den Sommer mit seinen endlosen Tagen, aber das hier ... das ist ...«

»Magisch.«

»Ja, genau.« Lächelnd sah Juhán Peter von der Seite an. Stellte sich vor, wie die Himmelslichter in diesen außergewöhnlichen Augen reflektierten und verspürte eine kribbelnde, innere Wärme. »Ich könnte es stundenlang anschauen.« Er meinte nicht nur die Lichter.

»O ja.«

So schauten sie eine Weile in den Himmel, sahen dem Farbenspiel aus Grün und Magenta zu, den verzauberten Bändern aus einer anderen Sphäre. Zwischen ihnen herrschte eine stille Harmonie, obwohl sie sich nicht kannten, sich gerade erst begegnet waren. Juhán fühlte sich selten wohl in der Gesellschaft Fremder, aber jetzt und hier war es irgendwie anders. Warum, konnte er nicht sagen.

»Es gibt so viele Dinge, die man sich im ursprünglichen Glauben meines Volkes über die Polarlichter erzählt, und manche davon glaube ich«, erklärte er irgendwann. »Oder habe sie geglaubt.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Als Kind habe ich geglaubt, dass das Nordlicht, oder Guovssahasat, wie wir es nennen, mich holen kommt, wenn ich unartig bin. Das haben mir meine Eltern und Großeltern immer angedroht.«

»Dann warst du wohl ein braves Kind«, schlussfolgerte Peter. »Denn du bist noch da.«

»So brav war ich gar nicht immer, aber vielleicht haben sie Gnade walten lassen, weil ich ihnen immer Lieder gesungen habe. Heja hejo, oah-heja hojoja ...« Er sang einfach los. Ohne Text, ohne feste Melodie, einfach das, was das Herz und der Himmel ihm gerade eingaben. So, wie er es immer machte.

»Das klingt schön.« Erstaunt sah ihn Peter an, vergaß zu Juháns Freude einen Moment, sich beschämt abzuwenden. »Wie heißt das Lied?«

»Oh, das hat keinen Namen. Das hab ich mir gerade ausgedacht.«

»Also ein Joik

»Ganz genau.« Lächelnd sang Juhán weiter, ließ seine Stimme in den Nachthimmel schallen.

Heja joja, heja-ja ...

»Du bist ein Sámi«, stellte Peter fest.

»So ist es. Und ob du es glaubst oder nicht, ich kam sogar gerade von der Rentierweide.«

 

»Rentiere.« Peters Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an und zeigte den Anflug eines schiefen Lächelns. »Ich liebe sie sehr, sie sind so zauberhaft. Und Elche ebenso, auch wenn diese Elchkuh uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt hat ...«

 

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