Absinth mit dem Teufel

Klippen der Hölle

Leseprobe


Gleißendes Tageslicht blendete ihn, als er ins Freie trat. Das erste Vogelzwitschern des nordischen Frühlings versprach eine trügerische Idylle. Aber sein Herzschlag, der dröhnende Herzschlag, hämmerte ihn zurück in die Realität.

Lauf, befahl er sich. Lauf.

Er rannte los. Sein Blick verkam zu einem Tunnel, links und rechts nur schwarz, in der Mitte der Waldweg mit dem trockenen Laub, das unter seinen Füßen raschelte. Er wagte ein kurzes Spähen über die Schulter, auf das klaffende Loch, aus dem er emporgestiegen war. Sah so das Tor zur Hölle aus? Und wenn ja, wie konnte er dort den zurücklassen, den er auf der Welt am meisten liebte? Er sollte umkehren. Aber er durfte nicht.

Lauf, hatte der Geliebte gesagt. Lauf, oder ich drücke ab.

Also lief er. Rannte. Blieb im Geäst hängen und kratzte sich die Wangen auf. Es spielte keine Rolle. Er hatte nicht gewusst, dass er so schnell sein konnte, aber die Angst trieb ihn, und er fand sich noch immer nicht schnell genug. Was, wenn er zu spät kam? Minuten, oder gar nur Sekunden? Vielleicht lief er in die falsche Richtung. Weiter in den Wald hinein, anstatt hinaus. Das wäre das Ende.

Er übersah eine Wurzel und stolperte. Kam ins Straucheln, fiel. Seine Knie brannten wie Feuer, waren vermutlich aufgeschürft. Einen Moment hielt er inne, stützte sich auf und schöpfte nach Atem.

Steh auf, gebot er sich. Steh endlich auf und renn weiter. Die Zeit läuft dir davon.

Abermals warf er einen Blick über die Schulter. Sah nichts als Bäume und Geäst. Niemand folgte ihm. Es schien, als habe man sich tatsächlich auf den Tauschhandel eingelassen. Mühsam rappelte er sich auf und rannte los. Der Atem in seiner Kehle rasselte, und noch schneller als seine Beine waren die Gedanken, die sich unentwegt in seinem Kopf drehten.

Alle Achtung, meine Söhne. Den Teufel mit seiner Braut anzulocken, ist ein kluger Schachzug. Gut gemacht.

War das die Wahrheit? War er es gewesen, der die ganze Zeit getäuscht worden war? Nein!

Er rannte weiter, bis der stechende Schmerz in seinen Lungen unerträglich wurde. Er wollte stehenbleiben, sich kurz an einen Baum stützen, aber sobald er innehielt, brach er in die Knie. Er hatte keine Kraft mehr, nicht einmal für einen verzweifelten Aufschrei. Nur noch ein jämmerliches Wimmern entkam seiner Kehle. Er blickte auf seine linke Hand. Etwas Blut sickerte durch den dicken Verband über der pochenden Wunde.

Halte durch! Lauf weiter! Hol Hilfe! Er braucht dich. Er braucht dich mehr als je zuvor in seinem Leben.

Er mobilisierte alle Kräfte, die er noch besaß, und stemmte sich hoch. Ging schwankend ein paar Schritte, stolperte, konnte sich aufrecht halten. Aus der Ferne vernahm er die Ahnung einer Straße. Vorbeifahrende Autos.

Du schaffst das. Du schaffst das.

Ein Schuss hallte durch die kühle Spätnachmittagsluft. Er fuhr herum. Ein Vogelschwarm flatterte hektisch auf, dann lag alles in gespenstischer Stille. Selbst der dröhnende Herzschlag schien für ein paar atemlose Momente auszusetzen.

Nein. Nein, nein, nein!

Es war zu spät. Er war nicht schnell genug gewesen. Aus der Nähe vernahm er Hundegebell. Knackende Äste, Schritte von Menschen.

Die Rettung, dachte er. Aber sie kommt zu spät. Oder?«

 

Eine Ahnung von Schnee begleitete David Rowbothams letzten Arbeitstag als Zeitungsbote und Gemeindehelfer. Die Luft roch auf eine metallische Weise frisch, und vereinzelte, federgleiche Flocken wirbelten durch die Luft. In der Ferne, in der Morgendämmerung, türmten sich gelblich-graue Wolken.

Ob es jedoch tatsächlich schneien würde, war fraglich. Hier im Süden Englands schneite es selten, und wenn, dann blieb die weiße Pracht kaum länger als ein paar Tage liegen. Wenn David Pech hatte, würde ihn noch vor Beendigung seiner Runde ein matschiger Eisregen überfallen. Aber wenigstens war es heute nicht neblig.

Ein knappes Jahr lang hatte er den Menschen in seinem Dorf jeden Morgen die Zeitung gebracht, sich in den frühesten Morgenstunden bei Wind und Wetter aus dem Bett gequält, und war auf seinem Fahrrad losgefahren, die Zeitungstasche auf dem Sattel. Sein eigentliches Geschäft, ein kleiner Buchladen mit Schreibwarenabteilung, lief nicht sonderlich gut, weshalb er diese Nebentätigkeit hatte annehmen müssen. Es war die beste Entscheidung seines Lebens gewesen.

Der Grund lebte in dem Haus, das in Sicht kam, als er die Anhöhe auf der Bergstraße am Ende des Ortes passierte. Die Leute im Dorf nannten es das Geisterhaus, weil es durch seine Einsamkeit, den verwilderten Garten und die zumeist zugezogenen Vorhänge düster und verwaist wirkte. Der Mann, der darin wohnte, war kein Geist, aber er besaß einen, sogar einen äußerst brillanten.

Sein Name war Jon Askil Fjallgren. David liebte ihn. Und Jon Askil liebte David ebenfalls. Das grenzte für ihn an ein Wunder, denn noch vor wenigen Monaten hatte dieser Mann aus tiefster Überzeugung behauptet, nicht lieben zu können. Gar nicht zu wissen, was Liebe sei. Aber David hatte nicht aufgegeben. Er gab nie auf, wenn ihm etwas am Herzen lag. Darum hatte er sein Geschäft noch. Und darum hatte er Jon Askil.

»Ich werde dich vermissen.« Lächelnd kam sein Mann die Stufen der Veranda herunter, als David sein Fahrrad gegen den maroden Zaun lehnte.

»Was völliger Blödsinn ist, denn wir werden uns ja noch viel öfter sehen als vorher«, versetzte er, nahm die letzte Zeitung aus der Tasche und öffnete das Gartentor.

»Ich weiß.« Jon Askil, der nichts als einen Morgenmantel, einen Schal und die dünnen Stoffschuhe trug, die David ihm vor einem knappen Jahr geschenkt hatte, kam ein paar Schritte auf ihn zu. »Aber unser kleines, morgendliches Ritual wird mir trotzdem abgehen.«

Halb verwirrt, halb amüsiert, zog David eine Braue in die Höhe. »Wenn das so ist, hättest du mich nicht dazu überreden sollen, meinen Nebenjob aufzugeben. Jetzt ist es zu spät. Sie haben schon jemand anderen gefunden.«

»Weißt du, wen?«

Er schüttelte den Kopf. »Margery konnte es mir nicht sagen. Ich hatte das Gefühl, dass sie meiner Frage ausweicht, aber das war sicher Einbildung.« Er legte die Zeitung wie immer auf den Stein neben dem Gartentor. Langsam, bedächtig, fast schon ehrfürchtig. Die letzte Zeitung. Dann war es vorbei. »Ich werd’s vermissen«, bekannte er mit einem Seufzen. »Und dann wieder nicht. Endlich mehr Schlaf. Aber wahrscheinlich werde ich demnächst fett, weil mir mein Frühsport fehlt.«

Jon Askil schnaubte. »Fett? Du bist so mager, dass du selbst mit zwanzig Pfund mehr auf den Rippen noch nicht einmal annähernd mollig wärst.«

»Stört dich das?«

»Nein.« Jon Askil lächelte, bückte sich nach der Zeitung und hob sie auf. »Wir sollten ein neues Morgenritual einführen, jetzt, wo das alte wegfällt. Vorzugsweise eines, bei dem du in meinem Bett liegst.«

David grinste, überwand die letzte Distanz zwischen ihnen und drückte seinem Mann einen Kuss auf die Wange. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«

Jon Askil packte ihn beim Kinn und suchte seine Lippen. »Ein Nein hätte ich auch nicht akzeptiert«, raunte er zwischen zwei Küssen. »Kommst du mit rein? Ich habe Tee und Kaffee gekocht. Wir können deinen Abschied vom Nebenjob mit einem Frühstück feiern.«

»Sehr gern.«

David folgte ihm hinein. Das Wort Abschied fühlte sich noch immer seltsam an, aber im Grunde war es genau das. Lange hatte er mit Jon Askil und innerlich mit sich selbst diskutiert, ob er aufhören sollte, oder nicht. Er war stets stolz auf seine Unabhängigkeit gewesen; darauf, sich seinen Lebensunterhalt ganz allein zu erwirtschaften, auch wenn er kaum mehr eine freie Minute für sich selbst hatte. Letzteres war eine Sache gewesen, die ihm zugesetzt hatte. Erschöpft, ausgelaugt. Seine wenigen freien Stunden hatte er mit Jon Askil verbracht. Er würde keine Sekunde davon missen wollen, auch wenn sein Mann nicht unbedingt das war, was man als einen einfachen Menschen bezeichnen würde. Es hatte Monate gedauert, zu ihm durchzudringen, begleitet von wiederkehrenden, harten Rückschlägen.

Immer öfter hatte Jon Askil ihm finanzielle Unterstützung angeboten. David hatte jedes Mal dankend abgelehnt, bis er ein Argument vorgebracht hatte, dem er sich nicht entziehen konnte: Wir sind Partner. Partner unterstützen sich gegenseitig, anstatt einen auf Einzelkämpfer zu machen.

Von dieser Seite hatte David das Angebot noch nie betrachtet, und letztendlich hatte es ihn überzeugt. Es war eine Entlastung für ihn. Und für Jon Askil, das begriff er, war es ein Weg, sich bei ihm für seine Geduld erkenntlich zu zeigen.

Mit einem tiefen Seufzen nahm David am gedeckten Frühstückstisch Platz. Der Geruch des Kaffees überlagerte den seines Tees bei weitem, aber es störte ihn nicht. Er freute sich auf sein Frühstück und beschloss, nicht länger melancholischen Gedanken an die vergangenen Monate nachzuhängen, sondern sich auf das zu freuen, was vor ihnen lag.

»Ich habe Rührei gemacht«, verkündete Jon Askil und hantierte geschäftig mit der Pfanne. »Es ist leider fester geworden, als beabsichtigt.«

»Das macht doch nichts«, beschwichtigte David.

»Mich stört es aber.«

»Oh, jetzt komm schon! Ich bin hungrig.«

Jon Askil kippte das gesamte Rührei aus der Pfanne auf einen einzigen Teller und stellte ihn vor David hin. »Tut mir leid. Trotzdem einen guten Appetit.«

»Danke. Und was isst du?«

»Kaffee und Zigarette, wie immer.«

»Bäh.« David zog eine Grimasse. »Tu mir den Gefallen, und tausche den Glimmstängel gegen eine Scheibe Toast aus.«

Sein Mann warf ihm einen komischen Blick zu. »Ich soll eine Scheibe Toast rauchen?«

David heulte auf. »Essen. Mit Schokocreme. Deal?«

Jon Askil rollte mit den Augen. »Na schön. Du redest genau wie deine Ziehmutter, wenn du deine Erbsen nicht aufessen willst.«

»Sie hat ja recht. Und ich auch.« David kostete von dem Rührei. Es schmeckte gut. Viel besser, als er es nach dem unzufriedenen Gebrumme erwartet hatte. »Das hast du wirklich gut gekocht.«

Jon Askil, der gerade das Glas mit der Schokocreme aus dem Schrank geholt hatte, fuhr herum. »Hör auf, so mit mir zu reden!«, herrschte er ihn an. »Ich bin kein dreijähriges Kind, das gerade erfolgreich ins Töpfchen gemacht hat.«

Erschrocken fuhr David zusammen. Solche unerwarteten Ausbrüche gab es immer wieder. Er konnte damit leben, würde sich aber wohl nie ganz daran gewöhnen. »Reg dich ab. Ich wollte nur nett sein und dir sagen, dass es gut schmeckt und du nicht unzufrieden sein musst.«

Sein Mann fuhr sich mit den Fingern durch sein halblanges, dunkles Haar. Er zitterte ein wenig. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anfahren. Ich ... ich habe heute meine Tabletten noch nicht genommen.« Er stellte das Glas ab und verließ mit eiligen Schritten die Küche. Tritte auf den Treppenstufen waren zu vernehmen und Momente später fiel die Badezimmertür ins Schloss.

David seufzte und nahm einen Schluck Tee. Er fröstelte ein wenig, hatte das Gefühl, dass sich eine Erkältung ankündigte, die er wahrhaft nicht gebrauchen konnte. Seine Gedanken flogen wieder zu Jon Askil und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie dieser wohl ohne seine Medikamente wäre. Würde das tatsächlich so viel ändern? Würden schlimme Dinge für ihn passieren, Bilder auftauchen, die er nicht sehen wollte? Lösten die Pillen wirklich Probleme, oder verdrängten sie sie nur? Er hatte keine Ahnung. Aber er grübelte regelmäßig darüber nach.

Als Jon Askil in die Küche zurückkehrte, schien er ein wenig entspannter, obwohl die Tabletten nach einer so kurzen Zeit noch gar nicht wirken konnten. Wahrscheinlich beruhigte ihn schon das Wissen, sie eingenommen zu haben.

»Alles okay?«

»Ja.« Anstatt etwas zu essen, zündete er sich eine Zigarette an. Mit geschlossenen Augen nahm er zwei, drei Züge, drückte sie aus und begann anschließend, sich doch noch einen Schokotoast zu schmieren.

»Du wirkst gestresst«, bemerkte David. »Komm, setz dich doch.«

»Zugegeben, ich habe Angst, dich zu etwas überredet zu haben, was du gar nicht willst«, gestand Jon Askil und rückte sich einen Stuhl zurecht.

»Die Angst kommt ein bisschen spät, findest du nicht?«

Er gab ein ungehaltenes Brummen von sich. »Wenn du es dir anders überlegt hast – notfalls besteche ich Margery, dass sie den Job doch wieder an dich zurückgibt.«

»Blödsinn.« David klopfte auf die Tischplatte, damit Jon Askil, der noch immer unschlüssig neben seinem Stuhl stand, endlich Platz nahm. »Ich will ihn nicht wiederhaben. Ich freue mich darauf, ein paar Stunden länger schlafen zu können und außerdem mehr Zeit für dich zu haben.«

»Mmh.« Zögerlich ließ sich Jon Askil auf seinem Stuhl nieder. »Es ist ja nicht so, dass du nicht schon deine gesamte Freizeit für mich opferst.«

»Liebe ist, wenn man es ohne den anderen nicht aushält«, belehrte ihn David. »Schon vergessen?«

Endlich zeigte sich ein kleines Lächeln auf dem scharf geschnittenen Gesicht. »Nein. Wie könnte ich denn auch.«

 

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