Absinth mit dem Teufel

Spiele der Nacht

Leseprobe


Er wurde bäuchlings gegen eine Wand gestoßen. Heißer, abgehackter Atem traf auf sein Ohr, während sämtliche Luft aus seiner Lunge gepresst wurde. Ein fester Körper drängte sich an ihn, ein nicht minder fester Griff in seinen Nacken.

»Ich hatte dich gewarnt«, zischte eine Männerstimme in sein Ohr. Dunkel, brodelnd, immer ein wenig heiser. »Oder etwa nicht?«

»Das hattest du«, bestätigte er. Ein Zittern erfasste seinen Körper. Eine Mischung aus Angst, Erregung und Adrenalin.

»Und du hältst es für eine kluge Idee, meine Warnungen zu ignorieren?«

Der Körper drängte sich noch fester gegen ihn. Der schwache Geruch von Patchouli stieg ihm in die Nase und vertrieb für einen Moment den der alten, muffigen Tapete an der Wand. Er spürte, wie die Situation ihn erregte, obwohl er, wie er es schon so oft gedacht hatte, lieber davonlaufen sollte. Aber etwas hielt ihn hier. Eine dunkle Macht. Eine Macht, die dem Mann innewohnte, der ihn gerade gegen die Wand drückte. »Manchmal will ich es«, flüsterte er mehr zu sich selbst. »Die Fackel an den Eisblock halten und sehen, ob er schmilzt.«

Der Mann hinter ihm lachte leise, sodass erneut kurze Atemstöße auf seine Wange trafen. Und ein Hauch von Absinth. »Du beschwörst Geister, die du nicht kontrollieren kannst, Junge.«

»Dich?«

Er hörte den anderen schlucken. »Mich.«

»Ich habe keine Angst vor dir.«

Der Druck des Körpers veränderte sich. Er war weniger fest, eher Nähe suchend als fixierend. »Das ist dein Fehler. Er wird dich eines Tages umbringen, wenn du nicht aufpasst.«

»Wird es nicht.« Er tanzte am Abgrund. Das spürte er deutlich an dem Kribbeln in seinen Fußsohlen. Aber die Versuchung, nachzusehen, was sich hinter dem Rand dieses Abgrunds verbarg, war einfach zu groß.

»Du hast ja keine Ahnung«, raunte der andere. Es klang wie ein tiefes Knurren.

»Keine Ahnung wovon?« Er befeuchtete seine Lippen und schmeckte einen flüchtigen Nachklang des Absinths, den er getrunken hatte. Bitter. Berauschend.

»Davon, wer ich wirklich bin.«

Ein Schauer durchfuhr seinen Körper. »Warum zeigst du es mir dann nicht endlich? Worauf wartest du?«

Der feste Griff löste sich aus seinem Nacken, und zwei Hände strichen an den Seiten hinab, über die Rippen, die nackte Haut der Taille und die Hüften.

Dann trat der Mann einen Schritt zurück. Ließ ihm mehr Raum zum Atmen. »Es wird nie wieder so sein wie vorher, wenn du es gesehen hast«, warnte er ihn.

»Gut.« Er konnte schließlich nicht ewig am Abgrund stehen und schwanken. Irgendwann musste er sich entscheiden, ob er einen Schritt zurücktrat oder sich in die Tiefe fallen ließ. Warum nicht jetzt?

»Gut?« Wieder dieses heisere Lachen. »Du weißt wirklich gar nichts.«

Er hörte das leise Rascheln von Stoff, der zu Boden fiel. Der seidene, dunkle Mantel, den der andere stets trug, als sei er mit ihm verwachsen. Nur Bruchteile von dem, was sich darunter verbarg, hatte er bislang zu sehen und zu fühlen bekommen. Haut, so blass wie der Januarschnee, die sich über Muskeln spannte. Jedoch nie weiter als bis kurz unter die Brust. Wie konnte das, was er war, davon abhängen, was von einem seidenen Mantel versteckt wurde?

»Wenn du es nach wie vor für eine gute Idee hältst, dann dreh dich jetzt um. Langsam. So, wie ich es dich gelehrt habe.«

Er gehorchte. Er gehorchte am Ende immer, weil dieser Mann etwas an sich hatte, was ihm keine andere Wahl ließ. Nicht in Situationen wie dieser. Bedächtig drehte er sich um, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, um nicht zu taumeln.

Kein Stoff bedeckte mehr die helle Haut. Keiner, vom Scheitel bis zu den Sohlen. Er schluckte schwer, als er seinen Blick daran auf- und abgleiten ließ. Er sah Schönheit. Und er sah Hässlichkeit. Ein Kunstwerk, in das jemand seine spitzen Krallen geschlagen und es in der Mitte zerrissen hatte. Widerlichkeit, die Herrlichkeit verunstaltete. Dinge, die auf keinen Körper gehörten. Egal, wer derjenige war.

»Wer bist du?«, flüsterte er, denn diese Frage war das Einzige, was ihm noch zu sagen blieb.

»Ich bin der Geist, der stets verneint«, erwiderte der andere und ein kaltes Lächeln zeigte sich auf seiner immer düster wirkenden Miene. »Und das mit Recht. Denn alles, was entsteht, ist es wert, dass es zugrunde geht.« Sein dunkles Haar fiel wie ein Vorhang vor sein Gesicht, als er das Haupt senkte.

Der Geist, der stets verneint. Er hatte diese Worte schon einmal irgendwo gehört, aber ihm fiel nicht ein, wo. Seine Sinne waren zu vernebelt. Zu verlangsamt. Die Augen flogen unstet über den blassen, festen Körper seines Gegenübers, der sich von der dunklen Möblierung im Hintergrund abhob. Immer wieder blieb sein Blick an den Schandmalen hängen, die dort nicht sein sollten. Alles, was entsteht, ist es wert, dass es zugrunde geht

»Sieh mich an, Junge«, forderte der Mann. »Sieh mir ins Gesicht.«

Langsam hob er den Blick. Mit Bedacht, so wie man es ihn gelehrt hatte. Keine plötzlichen Bewegungen. Der grüne Anteil der haselnussfarbenen Augen, die zwischen den Strähnen hervorschimmerten, erschien ihm intensiver als sonst. So grün wie die Fee, die ihren Bogen gespannt und ihn durch ein Absinthglas getroffen hatte. Unnatürlich. Er sollte das Zeug nicht mehr trinken. Es tat ihm nicht gut. So, wie auch dieser Mann hier ihm nicht guttat, und er trotzdem wieder und wieder zu ihm zurückkehrte, wann immer er ihm ein Zuckerstück auf den Löffel legte.

»Sag mir, wer ich bin.«

»Mein Freund«, brachte er atemlos hervor. »Mein Liebhaber.«

Zwischen den Strähnen des dunklen Haars war ein Lächeln zu erkennen. »Ich fragte nicht danach, was ich bin. Sondern wer ich bin.«

»Ich weiß es nicht.« Ein unkontrolliertes Zittern erfasste seinen Körper. »Ich dachte bis eben, dass ich es weiß. Aber ich weiß es nicht.«

»Ich werde es dir sagen«, verkündete der andere. »Und danach will ich, dass du nach Hause gehst.« Er hob seinen Blick. Ließ den Kopf im Nacken kreisen, als versuche er, eine Verspannung zu lösen, bevor er einen tiefen Atemzug nahm. »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« Die Muskeln unter der blassen Haut spannten sich an. Die Sehnen an seinem Hals traten hervor. »Ich bin … der Teufel

 

David Rowbotham verlor bereits die Lust an seinem neuen Nebenjob, als er einen Blick aus dem Fenster warf. Nicht nur, dass es noch entsetzlich dunkel war – viel zu dunkel, um aufzustehen, – es fiel auch noch ein widerwärtiges Gemisch aus Schnee und Regen. Allein der Gedanke daran, gleich dort hinauszumüssen, ließ ihn frösteln und sehnsüchtige Blicke auf sein gerade erst verlassenes, noch schlafwarmes Bett werfen.

Soll ich wirklich?, fragte er sich, rief sich dann aber selbst zur Ordnung. Nein, er würde das jetzt durchziehen. Und wenn er wieder zu Hause war, konnte er ein warmes Bad nehmen und sich danach noch ein Stündchen hinlegen, denn sein Geschäft öffnete erst ab zehn. Etwas motivierter durch die Vorfreude ging er ins Badezimmer, um sich zu waschen und anzuziehen. Dick anzuziehen, mit gefütterter Jacke, Schal und Mütze, damit er nicht schon durchgefroren war, wenn er gerade mal zwei Briefkästen mit der Tageszeitung bestückt hatte.

Für einen Moment erwog er, das Auto zu nehmen, aber als er darüber nachdachte, wie oft er anhalten, aussteigen und wieder einsteigen müsste und wie viel Zeit dadurch verlorenginge, nahm er von dem Gedanken Abstand. Er kam sich wie ein Weichei vor. Aber er brauchte das bisschen Geld, das das Austragen der Zeitung einbrachte. Sein eigenes Geschäft, ein kleiner Buchladen mit Schreibwarenabteilung, brachte kaum noch etwas ein. Die Leute fuhren lieber in die Stadt zu den Filialen großer Ketten, mit denen er nicht konkurrieren konnte – weder, was die Preise anging, noch die Auswahl. Er verstand es durchaus. Gewiss verlangte er von niemandem, dass er mehr von seinem sauer verdienten Geld ausgab, nur damit er seinen kleinen Laden weiter unterhalten konnte. Aber traurig machte es ihn trotzdem, daran zu denken, dass er früher oder später schließen und sich wahrscheinlich in einem der großen Konkurrenzgeschäfte würde bewerben müssen. Noch war es jedoch nicht so weit. Noch reichte es vielleicht, die Haushaltskasse nebenher durch Arbeit für die Gemeinde ein wenig aufzubessern, um am Monatsende nicht ganz in den Miesen zu stecken. Er sollte dabei helfen, im Sommer die Grünanlagen instand zu halten. Oder Gräber auszuheben, was in einem Ort, in dem mehr Menschen starben, als geboren wurden, durchaus eine Beschäftigung war. In der Kirche helfen, wenn es etwas vorzubereiten gab. Und jeden Morgen die Tageszeitung austragen.

Als er aus der Tür trat, knirschte der Boden unter seinen Füßen und der Atem gefror zu kleinen, weißen Wölkchen. Es war ein kalter Januarmorgen mit scharfem Wind, kein Wetter, bei dem man gern vor die Tür ging, aber immerhin hatte der Schneeregen aufgehört. David schnallte die Tasche mit den Zeitungen auf den Gepäckträger seines Fahrrads und machte sich auf den Weg durch das Dorf. King’s Gowt war ein verschlafenes Dreihundert-Seelen-Nest an der Küste Dorsets im Süden Englands, und die Bewohner warteten nun auf ihre Tageszeitung.

»Ich hätte Handschuhe anziehen sollen«, murmelte er, als eine Windböe anhob und ein nadelndes Gefühl auf seiner Haut hinterließ. Er zog sich den Schal bis zur Nase hoch und beeilte sich, seine Aufgabe zu erledigen. In manchen Häusern brannte Licht, warm und einladend, weil einige vermutlich schon am Frühstückstisch saßen. Aber morgens um halb sieben zogen es die meisten vor, noch ein wenig länger im Bett liegen zu bleiben, wenn sie nicht bald zur Arbeit mussten. Besonders im Winter. David ärgerte sich, dass er nichts gegessen hatte, bevor er losgeradelt war, aber er hatte seine Tour einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. Als er sich auf den Weg zum letzten Haus machte, das ein wenig abgelegen und weiter oben auf dem Hügel lag, der King’s Gowt vom Nachbardorf abgrenzte, brach hinter den dicken Wolken die Dämmerung an.

Im Dorf nannte man dieses Haus das Geisterhaus, obwohl es eigentlich ein hübsches Häuschen mit gelbbraunem Klinker und einem großen Garten war. Eigentlich. Tatsächlich vermittelte es jedoch den Eindruck einer gefledderten Leiche. Die Rollläden der Fenster des unteren Stockwerks waren stets heruntergezogen, die Fenster im Dachgeschoss klafften hingegen wie leere Höhlen. Man sah nie Licht. Der Garten schien vollkommen verwahrlost von wild wucherndem Unkraut, über das sich jetzt im Januar eine hauchdünne Schneedecke zog. Jemand, der es nicht besser wusste, würde zu dem Schluss kommen, dass dieses Haus unbewohnt und verlassen war. Das stimmte aber nicht. Es war schwer vorstellbar, aber tatsächlich wohnte dort jemand, wie auch immer derjenige hauste. Sein Name war David entfallen und er musste noch einmal auf die Adressliste schauen, um sich daran zu erinnern: Mr J.A. Fjallgren. Kein Wunder, dass er sich den nicht merken konnte. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie man diesen Namen überhaupt aussprechen sollte, geschweige denn, dass er wusste, wie sein Träger aussah. Der Mann ließ sich niemals im Dorf blicken, zumindest nicht, dass David es je mitbekommen hätte. Dass er überhaupt existierte, erkannte man nur daran, dass er die Tageszeitung erhielt.

Fjallgren. Er versuchte noch einmal, den Namen auszusprechen, während er die schmale, links und rechts von nackten Ginsterbüschen gesäumte Bergstraße hinauffuhr. Er klang skandinavisch, und David wusste auch, dass dieser Fjallgren kein Engländer war. Ein Schwede? Was auch immer. Vielleicht war es ihm hier ja zu hell und er stellte in seinem finsteren Haus die Polarnacht nach. Der alberne Gedanke brachte David zum Kichern und er wäre beinahe an der morsch wirkenden Zauntür vorbeigefahren. Abrupt bremste er ab, stieg vom Fahrrad und sah sich nach einem Briefkasten um, in den er die Zeitung stecken konnte. Nichts. Ein wenig irritiert fuhr er sich mit den Fingern unter die Mütze und kratzte sich am Kopf. Vielleicht direkt an der Haustür? Warum hatte er nur eine solche Angst, dieses Grundstück zu betreten? Guter Gott, dachte er, ich sollte weniger Horrorfilme anschauen. Er nahm die Zeitung aus der Tasche, gab sich einen Ruck und öffnete das Gatter, dessen quietschende Angeln ihn spätestens jetzt als Eindringling verrieten.

»Sofort stehenbleiben!«, fuhr ihn praktisch aus dem Nichts heraus eine Männerstimme an, so rau, als habe er eine Verletzung an den Stimmbändern. Und reichlich unfreundlich.

David erstarrte wie zu Eis gefroren.

»Sie kommen ziemlich spät«, fuhr der Mann fort. Er sprach nicht laut, aber mit einer Schärfe, die einem in den Ohren klingelte.

Erschrocken blickte David auf. »Ich … es ist halb acht«, stammelte er.

Ein Schatten löste sich aus dem Zwielicht des Vordachs und trat auf die erste Stufe. Ein kleines Laternenlicht neben ihm schien auf einen Bewegungsmelder zu reagieren und ging an. »Reichlich spät, sagte ich ja. Ich warte seit zwanzig Minuten darauf, endlich meine Zeitung lesen zu können.« Sein Akzent verriet ihn eindeutig als Skandinavier. David hatte mit der Annahme zu seinem Namen also richtig gelegen.

»Tja, ich … wissen Sie, die Neuigkeiten sind ohnehin schon veraltet, sobald die Zeitungen die Druckerei verlassen haben«, faselte er und starrte entgeistert auf den Mann, der im fahlen Schein der Laterne stand und nichts als einen halboffenen Morgenmantel und merkwürdigerweise einen Schal trug. Seine Füße, die auf der mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten Stufe standen, waren nackt.

»Wo ist Mrs Margery?«, fragte der Mann, ohne auf den Kommentar einzugehen. »Sie bringt sonst immer die Zeitung.«

»Sie hat diesen Job aus gesundheitlichen Gründen dankend an mich übergeben«, erklärte David. »Ich bringe jetzt die Zeitung. Sie sind Mr Fa… Fall...«

»Fjallgren.«

Aha, dachte David, als er den Namen ausgesprochen hörte. Er klang wie etwas, das seine Zunge nicht zu formen imstande war, aber er versuchte es trotzdem. »Also gut, Mr ... Fjallgren. Das ist mein erster Tag als Zeitungsausträger. Ich bin davon ausgegangen, dass zwischen sieben und halb acht ausreicht. Wenn das bei Ihnen nicht so ist, dann tut es mir leid. Kein Mensch ist perfekt.«

Die Miene des Mannes, dessen dunkles Haar in feuchten Strähnen bis auf seine Schultern hing, verdunkelte sich, was durch die Schatten verstärkt wurde, die der kümmerliche Laternenschein auf sein Gesicht warf. »Halten Sie die Klappe«, knurrte er. »Mrs Margery hat die Zeitung immer pünktlich um sieben an mein Haus gebracht und ich wurde nicht darüber informiert, dass das ab jetzt jemand anderes macht.«

»Oh.« David zog seinen Schal höher, als eine kalte Böe ihn erwischte. »Das wusste ich nicht. Das hat mir keiner gesagt, wissen Sie, sonst wäre ich die Runde andersherum gefahren.«

»Na schön.« Fjallgren trat auf die zweite Treppenstufe und David sog unwillkürlich die Luft ein, als die bloßen Füße erneut den Schnee berührten. Dem Mann schien das allerdings überhaupt nichts auszumachen, kein Zucken seiner Miene verriet, dass die Kälte irgendeine Reaktion in ihm auslöste. »Sie können das Blatt jetzt auf den Stein rechts von Ihnen legen. Ich hole es mir von dort.«

Ohne Schuhe?, durchfuhr es David und er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich bringe Ihnen das gern an die Tür –«

»Stopp!«, fuhr Fjallgren ihn an.

»Aber Mister, ich bitte Sie«, widersprach David und machte unbewusst noch einen Schritt vorwärts, »ich –«

»Ich sagte Stopp!«, schrie Fjallgren und seine Stimme erstarb vor Heiserkeit.

Ein Klicken, das er nur aus Actionfilmen kannte, ließ David augenblicklich innehalten. Er wagte es nicht einmal mehr, zu blinzeln.

»Sie bewegen sich keinen Zentimeter weiter«, gebot Fjallgren unter abgehackten Atemzügen und hielt die Mündung einer Pistole auf ihn gerichtet. »Wenn doch, dann schieße ich.«

»Scheiße«, fluchte David leise und hob ergeben die Hände, mit der Zeitung in der einen. Der Kerl war eindeutig geisteskrank. Er meinte es offensichtlich todernst mit seiner Drohung, denn er hielt die Waffe weiterhin auf ihn gerichtet, der Blick stet, die Arme ohne jegliches Zittern. Davids Körper war so angespannt, dass es schmerzte. Er getraute sich kaum, zu atmen, aus Angst, dass dieser Irre das als falsche Bewegung missdeuten und auf ihn schießen könnte. Was für eine Schlagzeile in der Zeitung wäre das, dachte er. Junger Mann beim Zeitungsaustragen von wütendem Gemeindemitglied erschossen. Würde er nicht gerade ernsthaft mit einer Pistole bedroht, würde er darüber lachen.

»Sie werden die Zeitung jetzt auf diesen Stein legen und sich dann rückwärts von meinem Grundstück entfernen. Auch in Zukunft werden sie genau das tun – sie an diese Stelle legen und dann verschwinden. Der Stein markiert die Grenze. Gehen Sie weiter, knalle ich Sie ab. Verstanden?«

»Warum darf ich nicht weiter als bis zu dem Stein gehen?«, wollte David wissen. »Ist das eine Art Bannkreis oder was?« Er fragte sich im selben Moment, ob er noch ganz bei Trost war, Scherze mit einem Mann zu treiben, der ihn mit vorgehaltener Knarre bedrohte.

»Ich nenne es lieber meine Komfortzone«, gab Fjallgren ungerührt zur Auskunft. »Ich lege keinen Wert darauf, dass fremde Leute auf meinem Grundstück herumschleichen, und zur Ablieferung einer Tageszeitung ist das auch nicht notwendig.«

»Es ist auch nicht notwendig, jemanden mit einer Waffe zu bedrohen, nur weil er Ihnen freundlicherweise die Zeitung an die Tür bringen wollte!«, gab David hitzig zurück.

»Doch«, widersprach Fjallgren, als sei das etwas ganz Normales. »Anders begreift sonst kaum jemand, wie ernst es mir damit ist. Na los, jetzt legen Sie endlich das verdammte Tratschblatt auf den Stein, ich will zurück ins Haus.«

Mit sehr langsamen, äußerst bedächtigen Bewegungen ging David in die Hocke, um die Zeitung auf den Stein zu legen, ohne den Blick von Fjallgren abzuwenden. »Warum tragen Sie keine Schuhe?«, entfuhr es ihm, während er sich langsam wieder erhob.

»Warum sind Sie so neugierig?«, versetzte der andere.

»Weil es mich schon vom Hinsehen friert.«

»Armes Kerlchen. Na dann, husch, husch, ab ins Warme.« Fjallgren vollführte eine scheuchende Bewegung mit der Hand, in der er die Waffe hielt.

»Sie sind verrückt!«, rief David mit unterdrückter Heftigkeit. »Wirklich und wahrhaftig verrückt in der Birne.«

»Hm. Sonst noch irgendeine weltbewegende Erkenntnis? Vielleicht, dass Wasser nass ist?«

Der Kerl hält sich also selbst für irre?, dachte David. Na, immerhin. Eigentlich habe ich immer geglaubt, ein Verrückter merkt nicht, dass er verrückt ist. »Ich werde Ihnen keine Zeitung mehr bringen, Mr Fjallgren«, verkündete er und reckte trotzig das Kinn. »Wenn Sie sie trotzdem haben wollen, dann werden Sie sie selbst aus dem Gemeindezentrum holen müssen.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Warum?«

Fjallgren stieß ein leises, dunkles Lachen aus. Sein stechender Blick bohrte sich in David, dass es regelrecht wehtat. Aber immerhin ließ er endlich den Arm mit der Pistole sinken und steckte sie in die Tasche seines Morgenmantels. »Na schön, Mr Warum. Ich denke, wir sind hier unterschiedlicher Meinung, also sage ich einfach mal: Bis morgen. Denken Sie daran: Bis zum Stein. Und niemals weiter.«

»Sie können sich Ihren Stein sonstwohin schieben«, gab David zurück. »Wer eine Knarre auf mich richtet, nur weil ich freundlich sein wollte, bekommt von mir keine Zeitung.«

»Verstehe.« Fjallgren zuckte mit den Schultern und wirkte beinahe unbekümmert. »Na los, verschwinden Sie endlich. Ich will meine Zeitung holen, damit ich in Ruhe frühstücken kann.«

Das ließ sich David nicht zweimal sagen. Rückwärts versuchte er, den Weg aus dem Gartentor hinaus zu finden, stolperte über einen Stein, fiel beinahe, konnte sich jedoch gerade noch so an einer Zaunlatte festhalten. Schmerzhaft schob sich ein kleiner Holzsplitter in die Kuppe seines Mittelfingers, den er diesem Fjallgren am liebsten entgegenstrecken würde. Bedächtig schloss er das Gartentor hinter sich. Dann schwang er sich auf sein Fahrrad und trat in die Pedale, als würde er vom Teufel gejagt, während die Zweige der Hecken in der Morgendämmerung wie hunderte Skelettfinger wirkten, die sich nach ihm ausstreckten.

 

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