Big Bad Enemy


Oh, Seattle. Endlich bin ich wieder hier. Die Großstadtluft hat mir gefehlt, nachdem ich die letzten Monate in einem Nest namens Fall City verbracht habe – der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, an dem meine Familie wohnt, auch mein Onkel Tobias, der dort seine Kanzlei betreibt.

Ich konnte es kaum erwarten, nach Seattle zurückzukehren. Nicht nur, weil ich das Großstadttreiben, die Bars mit der Livemusik und den Bangrak Market mit seinem leckeren, asiatischen Street Food vermisst habe. Nein: Dass ich hier bin, bedeutet, dass ich meinem Ziel einen Schritt näher gekommen bin. Heute entscheidet sich, wie lange mein Aufenthalt in der Stadt sein wird – oder wie kurz.

Das Warten in diesem Vorraum zieht sich allerdings ewig hin. Ich sitze in der renommierten Anwaltskanzlei Berkowicz Wolf Ramirez und warte auf mein Vorstellungsgespräch bei Mr. Wolf, während die rothaarige Sekretärin im Vorzimmer ununterbrochen Telefongespräche weiterleitet und zwischendurch ihren Lippenstift nachzieht.

Eli Wolf ist der mächtigste, berüchtigtste Wirtschaftsanwalt des pazifischen Nordwestens. Sein Ruf hat ihm den Spitznamen Big Bad Wolf eingebracht, denn er ist bekannt dafür, die dicksten Fische an Land zu ziehen, feindliche Übernahmen von Unternehmen durchzupeitschen und sich jeder rechtlichen Grauzone zu bedienen, die ihm und seinen Klienten zugutekommt.

Dass ich zu diesem Vorstellungsgespräch überhaupt eingeladen wurde, macht mich immer noch ein bisschen fassungslos, denn ich habe mein Jurastudium erst letzten Herbst beendet. Jura war nie mein Traumfach, ich wollte eigentlich den Bachelor of Arts in Musik machen, aber dann passierten gewisse Dinge und ich musste meine Lebenspläne ändern.

Deshalb sitze ich jetzt hier. Der nächste Schritt, so nahe am Ziel, dass mein Herz rasend klopft, wenn ich nur daran denke. Ich habe Jura studiert, um hier zu sein. Exakt in dieser Kanzlei. Weil hier die Antworten liegen, die ich seit Jahren suche. Die ich finden muss, weil es in meinem Leben sonst keinen Frieden geben kann. Ich habe keine Angst vorm großen, bösen Wolf.

Da mir vom Warten langsam der Hintern wehtut, stehe ich auf und strecke mich verstohlen. Die Sekretärin wirft mir einen irritierten Blick zu, aber ich ignoriere sie und trete an eins der bodentiefen Fenster, die hier im 26. Stockwerk einen atemberaubenden Blick auf die Stadt freigeben. Ich sehe die Space Needle, einen Aussichtsturm mit Restaurant, der aussieht, als sei ein Ufo auf einem gigantischen Strommast gelandet, den Rainier Tower und das Columbia Center, das höchste Gebäude Seattles.

Regen plätschert gegen die Scheibe. Es ist März, früher Nachmittag und ekelhaft nasskalt. Ich schaudere und wünsche mich in einen warmen Sweater, anstatt in Anzug, Hemd und Krawatte. Aber wenn ich in meinem Simpsons-Pullover hier aufgetaucht wäre, hätte man mich wohl direkt wieder rausgeschmissen. Das kann ich nicht riskieren. Ich muss eine Anstellung hier bekommen. Ich muss.

»Mr. Segal?«

Erschrocken fahre ich herum. Die Sekretärin steht nur zwei Schritte hinter mir und sieht mich an, als sei es eine Zumutung, sich überhaupt mit mir befassen zu müssen.

»Mr. Wolf empfängt Sie jetzt. Folgen Sie mir.«

Sie führt mich durch eine Glastür einen kurzen Gang hinunter zu einem komplett verglasten Büro und öffnet die Tür.

»Mr. Wolf? Jonathan Segal, wegen des Vorstellungsgesprächs.«

Wolf nickt stumm, die Sekretärin schlüpft hinter mir zur Tür hinaus und macht sie zu. Mein Mund ist schlagartig trocken wie eine Wüste. Ich darf das hier nicht versauen. Auf gar keinen Fall.

»Wollen Sie von dort vorn mit mir sprechen?«, fragt Wolf und sieht mich nicht einmal an.

»Nein, ich ... Verzeihung. Guten Tag, Mr. Wolf, mein Name ist Jonathan Segal.«

»Ja, das ist mir durchaus klar.«

Endlich blickt er auf. Er ist einer dieser Personen, die mit ihrer Präsenz einen ganzen Raum einnehmen. Seine braunen Augen bohren sich förmlich in mich und ich hasse die Tatsache, dass ich mir beinahe in die Hose mache. So war das nicht geplant. Ich wollte ihm selbstbewusst gegenübertreten, nicht wie ein Duckmäuser, der den Schwanz vor dem großen, bösen Wolf einkneift.

»Jetzt setzen Sie sich endlich.« Wolf legt seinen Kugelschreiber beiseite und lehnt sich zurück. Er wirkt genervt, sogar etwas gelangweilt, und die Muskeln an seinem kantigen Kiefer treten hervor. Auf seinem Portrait auf der Website der Kanzlei ist er glattrasiert; heute trägt er jedoch einen kurzen, gepflegten Vollbart, der sein strenges Gesicht noch dunkler und bedrohlicher wirken lässt.

Vorsichtig ziehe ich den Stuhl vor dem Schreibtisch ein Stück zurück und hoffe, dass Wolf nicht bemerkt, wie meine Hände zittern. Heute steht alles für mich auf dem Spiel. Wenn er mir keine Chance gibt, habe ich meine Lebenspläne umsonst über den Haufen geworfen.

»Danke für die Einladung«, erkläre ich und versuche, eine bequeme Stellung zu finden und trotzdem nicht wie ein nasser Sack in dem Stuhl zu hängen.

»Warum sind Sie hier, Mr. Segal?«

Weil du mich eingeladen hast?!

»Berkowicz Wolf Ramirez ist eine Kanzlei mit einem exzellenten Ruf, der mit keiner anderen im pazifischen Nordwesten vergleichbar ist, was Wirtschaftsrecht angeht. Ich möchte von den Besten lernen.«

»Arschkriecher-Hausaufgaben gemacht.«

»Bitte?« Mein Körper versteift sich. Meine Spucke ist ja sowieso schon lange weg.

Wolf erhebt sich mit einem Seufzen aus seinem Stuhl und beginnt, um Büro umherzustolzieren. Er ist groß gewachsen, schlank und athletisch, und sein dunkelblauer Anzug sitzt tadellos. Der Hauch eines teuren Eau de Toilette weht zu mir heran, als er mich umrundet, wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist.

»Typische Einschleimphrasen, Mr. Segal. Beeindruckt mich nicht im Geringsten.«

Meine Hände verkrampfen sich um die Stuhllehnen, lassen sich nicht entspannen. Ich habe das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen. Meine Hoffnung ist schon mal vorsorglich gesprungen.

»Aber wie Sie ganz richtig erkannt haben«, fährt Wolf fort, »hat diese Kanzlei sich einen großartigen Ruf erarbeitet. Hier arbeiten nur die Besten und vertreten nur die Wichtigsten. Juristen mit Erfahrung, mit einem Renommee. Leute, die sich bewiesen haben. Nur die Besten sind für meine Partner und mich gerade gut genug. Warum glauben Sie, Mr. Segal, dass Sie zu diesen Besten gehören? Sie haben gerade erst die Universität abgeschlossen und Ihre Erfahrungen beschränken sich auf die Kanzlei ihres Onkels, der Hausfrauen bei ihrem Scheidungsprozess betreut.«

Ich schlucke trocken. Er hat sich also durchaus über mich informiert, aber die herablassende Art, wie er mir diese Informationen vermittelt, macht mich innerlich rasend.

»Wie soll ich wertvolle Erfahrungen sammeln, wenn mir keiner die Chance gibt, welche zu machen?«

Wolf, der gerade wieder hinter seinem Schreibtisch angekommen ist, bleibt stehen. Und er lächelt. »Gute Antwort.«

»Sie haben ja sicher auch nicht direkt als der größte Fisch im Haifischbecken begonnen«, fahre ich fort, ermutigt durch seinen Anflug von Anerkennung.

»Völlig richtig.« Er nimmt wieder Platz. »Und wissen Sie, wo ich begonnen habe? In der Kanzlei meines Onkels. Strafrecht. Kleinkriminelle, Verkehrssünder, all das. War nie meine Welt, aber ... der Weg zum Gipfel beginnt mit den ersten Schritten im Tal. Und dann heißt es klettern. Sie erwarten aber offenbar einen Lift. Denn hier ist schon der Gipfel, und Sie haben noch nicht einmal wirklich einen Felsen bestiegen. Es ist absurd, zu glauben, dass ich Sie hier einfach einstelle.«

Ja. Bedauerlicherweise ist das die Wahrheit, und trotzdem hatte ich Hoffnung. Eine wahnwitzige Hoffnung, nicht noch weitere Jahre warten zu müssen, bis ich meine Chance auf Gerechtigkeit bekomme. Ich fühle mich gerade unglaublich dumm und vorgeführt. Wie ein naives Rotkäppchen.

»Warum haben Sie mich dann überhaupt eingeladen?«, frage ich resigniert.

Wolf beugt sich zu mir nach vorn. Sein Duft hüllt mich ein und ich sehe die zwei steilen, senkrechten Fältchen zwischen seinen Brauen. »Weil ich den Mann sehen wollte, der die Dreistigkeit besitzt, sich frisch von der Universität bei mir zu bewerben.« Er lächelt wieder. Es wirkt sinister.

Ich verstehe. Er wollte nichts anderes, als mich vorführen und sich über mich lustig machen. »Dann hatten Sie ja jetzt Ihren Spaß.« Ich mache Anstalten, aufzustehen. Mein ganzer Körper schmerzt vor Anspannung, ich will nur noch allein sein und mich aus Frust betrinken. Ich war zu voreilig, zu ungeduldig und habe damit meine einzige Chance verspielt, an die Quelle der Informationen zu kommen, die ich für meine Antworten brauche.

»Halt.« Gebieterisch hebt Wolf eine Hand. »Wann sagte ich, dass Sie aufstehen dürfen?«

»Ich nahm an, das Gespräch sei beendet, weil–«

»Sie sollten weniger spekulieren, Jonathan.« Die Art, wie er meinen Vornamen ausspricht, jagt mir einen Schauer über den Rücken. »In dieser Welt zählen nur harte Fakten. Und Mut. Sie sind mutig, dafür, dass Sie mir Ihre Bewerbung geschickt haben und tatsächlich auch hier aufgetaucht sind, auch wenn sie jetzt wie ein verängstigtes Häschen in Ihrem Stuhl kauern.«

Erschrocken richte ich mich wieder auf und nehme eine strammere Körperhaltung an.

Wolf lacht, ein sonorer, kratziger Ton. »Schön. Da ich der Meinung bin, dass Mut belohnt werden sollte, will ich Sie nicht mit ganz leeren Händen gehen lassen.«

Ich halte die Luft an und muss an mich halten, nicht aufzuspringen. »Das heißt, Sie bieten mir doch eine Stelle an?«

»Und schon überschreiten Sie wieder die Grenze zwischen Mut und Dreistigkeit.« Wolf schnalzt mit der Zunge. »Ich biete Ihnen ein Praktikum an. Drei Monate, in denen ich Ihnen keinen Cent zahle, aber in denen Sie sich beweisen dürfen. Sie werden Kaffee kochen, Akten ordnen und kopieren und mich zum einen oder anderen Termin begleiten, um meine Tasche zu tragen. Sollte ich in dieser Zeit ein gewisses Potenzial in Ihnen wahrnehmen, bekommen Sie vielleicht den Hauch einer Chance auf eine kleine Stelle in dieser Kanzlei. Dies ist mein Angebot. Nehmen Sie es an oder seien Sie dumm und lehnen es ab.«

»Ich nehme es an«, versetze ich wie aus der Pistole geschossen.

Es spielt überhaupt keine Rolle, dass er mich nicht bezahlt und ich vielleicht nur Akten ordne. Genau das will ich sogar: an die Akten. Ohne es zu wissen, hat mir Wolf mit seinem Angebot gerade den Schlüssel zur verbotenen Stadt überreicht. Ich kann mein Glück kaum fassen.

»Kluger Junge. Sie fangen kommenden Montag hier an, ich bin spätestens um sieben Uhr im Büro und ich erwarte, dass Sie vor mir da sind. Ihr Feierabend ist dann, wenn ich Sie nach Hause schicke. Jetzt ist der Moment, in dem Sie aufstehen und gehen dürfen. Ich habe heute noch eine Menge zu tun und habe schon mehr Zeit in Ihr kleines Vorstellungsgespräch investiert, als ursprünglich geplant.«

Eilig stehe ich auf. »Danke, Mr. Wolf. Vielen Dank für diese großartige Chance. Ich –«

»Eine Sache hasse ich wie die Pest«, unterbricht er mich. »Und das ist Arschkriecherei. Lassen Sie dieses überschwängliche Danken, mir kommt gleich das Mittagessen hoch. Beweisen Sie sich durch Ihren Arbeitsethos. Bis Montag, Jonathan.«

»Bis Montag, Mr. Wolf«, gebe ich zurück und verlasse sein Büro.

 

»Was – was meint ihr damit?«  

 

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