Bittersweet Christmas

Leseprobe


Ich erwache so früh am Morgen, dass es noch dunkel ist und im gesamten Haus eine Totenstille herrscht. Philip neben mir schläft den tiefen Schlaf der Gerechten und schnarcht dabei leise. Ich gönne es ihm. Der gestrige Tag hat uns emotional alles abgefordert, wenn auch nicht wie erhofft nur im guten Sinne.

Diese seltsame innere Unruhe hat mich wieder im Griff, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Es macht mir Angst. Nicht, weil ich wirklich daran glaube, dass jemand mich beobachtet, aber weil ich befürchte, langsam durchzudrehen. Vielleicht sollte ich doch einmal meinen Therapeuten darauf anzusprechen. Ich habe jahrelang Medikamente und Aufputschmittel genommen, vielleicht sind das Spätfolgen.

Ich muss aufstehen. Ich kann nicht länger hier liegenbleiben und außerdem fürchte ich, mit meinem nervösen Herumgezapple Philip zu wecken. Zärtlich mustere ich meinen frischgebackenen Ehemann im nächtlichen Zwielicht. Eine Welle von Liebe umspült mich. Ich habe mein Gegenstück gefunden, den Menschen, der mich vervollständigt. Und nun haben wir uns endlich auch ganz förmlich zueinander bekannt. Wir sind Mason und Philip Starr.

So leise wie möglich erhebe ich mich aus dem Bett und ziehe mich an. Ich muss an die frische Luft, unser Schlafzimmer erscheint mir stickig und eng, obwohl es ein großzügiger, weiter Raum ist. Auf Zehenspitzen schleiche ich die Treppe hinunter. Unter dem großen Weihnachtsbaum, der die Eingangshalle dominiert, liegen Berge von Geschenken für unsere Gäste, die Santa Claus in Form meiner Angestellten heute Nacht dort platziert hat. Selbstverständlich habe ich auch meine Heinzelmännchen selbst nicht vergessen und anlässlich Weihnachten und meiner Hochzeit jedem meiner persönlichen Angestellten eine großzügige Bonuszahlung zukommen lassen und ihnen zusätzlich eine Reise auf die Bahamas geschenkt.

Ich ziehe mir Jacke und Schuhe an und will hinaus in den Garten. Zuweilen genieße ich die einsamen Momente, in denen der Morgen gerade dämmert und ich mir vorkomme, als sei ich der einzige Mensch auf dieser Welt. Doch irgendein seltsamer Instinkt bringt mich dazu, mich noch einmal umzudrehen. Mein Blick fällt auf einen der kleinen Beistelltische neben den großen Sesseln. Dort liegt eine Postkarte. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich hinübergehe und die Karte zur Hand nehme.

Das Motiv zeigt Kingsville in Texas. Kingsville... dort war damals das Camp, in dem ich wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollte. In dem ich das erste Mal auf Frank Ritter traf. Mein Mund wird mit einem Schlag so trocken, als habe ich Sand gegessen. Was hat das zu bedeuten? Und wie kommt diese Karte in mein Haus? Ich drehe sie um und lese die Botschaft:

 

Einen Menschen lieben heißt einwilligen, mit ihm alt zu werden.

(Albert Camus)

 

Meinen Glückwunsch zur Hochzeit und frohe Weihnachten.

 

Und wieder klebt darunter eine getrocknete Blüte der Vergissmeinnicht. Hektisch drehe ich mich um, suche mit Blicken jeden Winkel des Raumes ab und halte lauschend inne. Nichts. Doch... doch, da kommen Geräusche aus der Küche!

Alarmiert schleiche ich mich zu dem kleinen Sideboard neben den Sesseln, ziehe eine Schublade auf und betätige einen geheimen Mechanismus, der ihren doppelten Boden öffnet. Ich habe dort eine 9mm Browning versteckt, wie auch noch an anderen Stellen im Haus, man weiß ja nie. Ich lebe zwar inmitten von Mauern, Alarmanlagen und Sicherheitspersonal, aber seit diese Postkarte aus Corpus Christi kam, fühle ich mich selbst hier nicht mehr sicher, obwohl es sonst nie irgendwelche Vorfälle gab und selbst Paparazzi uns weitestgehend in Ruhe lassen.

Langsam taste ich mich in Richtung Küche vor, bis ich schließlich an der Tür angelangt bin. Ich höre das Klappern von Töpfen.

»Wer auch immer da drin ist«, rufe ich warnend, »kommen Sie heraus. Ich habe eine Waffe und keinerlei Scheu, davon Gebrauch zu machen.«

Langsam öffnet sich die Tür und Billie, unsere Haushälterin, steckt ihren Kopf heraus. »Mr. Starr?« Als sie die Pistole in meiner Hand bemerkt, weicht sie erschrocken zurück.

Ich lasse die Waffe sinken. »Entschuldigen Sie, Billie. Ich dachte, hier sei ein Einbrecher.«

»Ein Einbrecher? Hier?« Sie schaut mich an, als sei ich nicht ganz dicht.

»Wo kommt diese Grußkarte her, Billie?«, frage ich sie eindringlich.

»Welche Karte, Mr. Starr?«

»Die, die auf dem kleinen Beistelltisch bei den Sesseln lag. Haben Sie sie dort hingelegt? Und wenn ja: wo haben Sie sie her?«

»Achso, die! Ja, also, als ich vor einer halben Stunde ins Haus kam, um alles für das Frühstück vorzubereiten, habe ich wie immer auch gleich den Briefkasten geleert. Nur diese Karte war darin.«

Der kalte Schweiß bricht mir aus. »Haben Sie irgendjemanden hier in der Nähe gesehen, der Ihnen fremd ist? Irgendetwas, was Ihnen komisch vorkam?«

»Nein, Mr. Starr. Alles ist wie immer. Ist denn irgendetwas vorgefallen? Sie kommen mir sehr besorgt vor.«

»Nein, Billie, ich – ich glaube, das ist der Stress. Es war alles ein bisschen viel in den letzten Tagen. Tut mir leid, dass ich Sie so erschreckt habe. Ich werde ein wenig in den Garten gehen und frische Luft schnappen.«

»In Ordnung.«

Kaum weniger beunruhigt trete ich meinen Weg in den Garten an. Immerhin war der Absender der Karte nicht in meinem Haus. Aber er muss höchstpersönlich an meinem Briefkasten gewesen sein. Zum einen hat die Karte wieder weder Marke noch Stempel, zum anderen kann keiner so schnell von meiner Hochzeit erfahren und eine Karte geschrieben und diese abgeschickt haben. Wobei mir ein Rätsel ist, wie er überhaupt von meiner Hochzeit erfahren hat, denn unsere Gäste wussten bis gestern selbst nichts davon und alle anderen, die an den Vorbereitungen beteiligt waren, wurden zum Stillschweigen verpflichtet.

Der frisch gefallene Schnee knirscht unter meinen Füßen, als ich meinen Spaziergang beginne. Die Luft ist eisig und mein Atem bildet kleine, weiße Wölkchen.

Er ist hier. Ich weiß, dass er hier ist, auch wenn es eigentlich nicht sein kann.

Wir leben hier hinter unseren Mauern gut bewacht, aber ansonsten relativ unbehelligt, weshalb sich um diese Mauern herum natürlich jeder bewegen kann, wie er möchte – und auch vermeintlich harmlose Postkarten einwerfen.

Langsam geht die Sonne auf. Es zieht mich ans Seeufer, auch wenn ich dazu meine schützende Festung verlassen muss. Es gibt eine geheime, gesicherte Tür in der Mauer, die nur Philip, ich und handverlesenes Sicherheitspersonal mittels eines Codes öffnen können. Ich gebe die siebenstellige Ziffernfolge ein und die Tür öffnet sich. Ich trete hinaus.

Der Lake Huron erscheint grau und still in der Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen erscheinen am Horizont. Es verspricht, ein schöner Morgen zu werden. Am Ufer sitzt eine einsame Gestalt mit einer Angel und schaut versonnen auf die ruhige, sich gleichmäßig bewegende Wasseroberfläche.

Ich sollte überrascht sein, erschrocken, entsetzt, aber ich bin es nicht. Nicht einmal die Angst, die mit ihren kalten Fingern nach mir greift, schafft es, mich vollends zu erreichen. Wahrscheinlich ist es ein Trugbild. Wahrscheinlich stimmt irgendetwas in meinem Kopf endgültig nicht mehr und der Stress der vergangenen Wochen, der jetzt von mir abfällt, setzt ungeahnte Mechanismen in meiner Psyche frei.

Jeglicher Vernunft zum Trotze gehe ich auf die Gestalt zu. »Frank.«

Mein Peiniger dreht sich um und lächelt. Tiefe Furchen graben sich in seine Wangen ein und seine Hakennase erscheint mir noch größer als in meiner Erinnerung.

»Guten Morgen, Drake. Ich wusste, dass du irgendwann aus deinen Mauern herauskommen würdest.« 

 

< Zurück