»Guten Ta – « Meine Stimme versagt. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sich der Boden jetzt sofort auftut und mich verschluckt. Warum um alles in der Welt steht Mason Starr vor mir?
»Setzen Sie sich«, befiehlt er mit donnernder Stimme. Wie von unsichtbaren Strängen gelassen falle ich zurück auf meinen Stuhl. Er nimmt mir gegenüber an dem Schreibtisch Platz. »Dr. Philip Foster also, ja?«
»Ja, Mr. Starr.« Meine Stimme klingt seltsam hohl.
»Hm.« Er greift sich einen Hefter mit Unterlagen – meine Unterlagen? - und blättert darin herum, liest aber keine einzige Zeile, da er stattdessen die ganze Zeit mich mit Blicken taxiert. »Mussten Sie lange warten?«
»Ich – nein, das ging schon in Ordnung.« Gott, ich habe das Bedürfnis, mir meine Krawatte vom Hals zu reißen, weil ich das Gefühl habe, sie wird mich gleich erwürgen.
»In Ordnung?« Er macht ein erstauntes Gesicht, aber ich sehe etwas Lauerndes in seinen dunklen Augen. »Dr. Foster – damit ich Sie richtig verstehe: Sie halten es für in Ordnung, jemanden«, er schaut auf die Uhr, »... vierundzwanzig Minuten warten zu lassen?«
Das ist eine Fangfrage. Eine Anspielung auf meine Verspätung. Verdammt, dieser Mann spielt mit mir und ich starre ihn an wie das Kaninchen die Schlange – völlig unfähig, der Situation zu entkommen. Ich räuspere mich. »Ich war mir sicher, dass, wer immer das Gespräch mit mir führen wird, sehr beschäftigt ist, und – «
»Und Sie, Dr. Foster?«, unterbricht Starr mich schneidend. »Sind Sie ein vielbeschäftigter Mann?«
»Zur Zeit nicht«, gebe ich zu. Meine Stimme klingt tonlos und heiser.
Starrs Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. »Also. Ich frage Sie noch einmal: Finden Sie es in Ordnung, jemanden vierundzwanzig Minuten warten zu lassen?«
Ich ahne, worauf er hinauswill. »Eigentlich nicht, ich – «
»Finden Sie es in Ordnung?«, unterbricht er mich wieder. »Kein Herumgeeiere. Klare Antwort, ja oder nein. Jetzt.«
»Nein.«
Ein kleines, boshaftes Lächeln kräuselt sich in seinen Mundwinkeln. »Nein. Das dachte ich mir. Also gut, Dr. Foster. Bitte, Sie müssen mir helfen. Sie sind zur Zeit nicht das, was man einen vielbeschäftigten Mann nennen würde, sagen Sie. Auch finden Sie es nicht in Ordnung, jemanden vierundzwanzig Minuten warten zu lassen. Erklären Sie mir folgenden Widerspruch: Wie kommt es, dass Sie dieses Büro erst um 10:54 Uhr betreten haben, anstatt, wie vereinbart, um 10:30 Uhr? Sie haben sich ganze vierundzwanzig Minuten verspätet. Wissen Sie, wie ich so etwas nenne? Unverzeihlich.« Das letzte Wort kommt wie ein Peitschenhieb.
Resigniert lasse ich meine Schultern hängen. Ich weiß, dass meine schlaffe Körperhaltung gerade kein gutes Bild abgibt, aber das spielt ja ohnehin keine Rolle mehr. Ich werde diesen Job nicht bekommen. Ich habe es verscherzt, indem ich etwas getan habe, was in den Augen von Mason Starr unverzeihlich ist. Scheiß Fluggesellschaft!
»Ihre Erklärung, Dr. Foster.« Unruhig tippt er mit den sauber manikürten Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Ich warte.«
Ich ducke mich normalerweise nicht vor anderen Männern, aber dieser Mensch ist einfach nur einschüchternd. »Mein Flug hat sich um mehr als vier Stunden verspätet. Ich konnte nichts dafür. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass Sie höchstpersönlich das Vorstellungsgespräch mit mir führen würden.«
»Ach, und wenn Sie es gewusst hätten, hätte sich der Flug nicht verspätet?« Er setzt wieder diese gespielt erstaunte Miene auf. Langsam macht er mich damit irgendwie wütend.
»Leider doch, Mr. Starr«, gebe ich mühsam zurück, »das liegt nicht in meiner Macht.«
»Wozu dann dieser überflüssige Kommentar?«
Ich gebe keine Antwort und Starr erwartet offenbar auch keine. Stattdessen steht er auf und stolziert mit hinter dem Rücken verschränkten Armen um den Schreibtisch herum. Ein Hauch seines Eau de Colognes weht zu mir herüber, als er dicht hinter mir vorbeigeht. Chanel Allure Homme? Ich glaube ja. Der Duft passt zu diesem Mann. Als er wieder hinter dem Schreibtisch angekommen ist, stützt er sich mit beiden Händen ab und lehnt sich zu mir nach vorn. Obwohl es in diesem Moment nichts gibt, das ich mir mehr wünsche, als mich in Luft aufzulösen, nur um Starr zu entkommen, kann ich nicht leugnen, dass seine Attraktivität mich umhaut. Alles an ihm sitzt da, wo es sein soll, jede Proportion stimmt. Mein Blick wandert zu seinen Händen. Sie sind schön, mit langgliedrigen Fingern, und jede Vene zeichnet sich darauf ab. Ein kurzer Blick auf seinen Ringfinger gibt mir die Gewissheit: Er ist verheiratet. Natürlich ist er das, er konnte sich aus tausend Frauen vermutlich die Schönste herauspicken. Aber was hat mich sein Familienstand überhaupt zu interessieren? Selbst wenn er Single wäre: Ich bin ein Mann. Und schwul ist dieser Mann garantiert nicht.
»Ich werde Ihnen jetzt etwas erklären, Philip«, kündigt er an und ich zucke fast unmerklich zusammen, als er meinen Vornamen ausspricht. »Wenn Sie in einem Unternehmen wie Starr Inc. erfolgreich sein wollen, dann brauchen Sie immer einen Plan B.«
Tja. Wo er recht hat ...
»Sie jedoch haben nicht vorausschauend gedacht und haben deshalb vierundzwanzig Minuten meiner kostbaren Zeit verschwendet.«
»Es tut mir leid, Mr. Starr, ich – «
»Philip, Herrgott nochmal!« Seine flache Hand knallt auf die Tischplatte. Zu Tode erschrocken rutsche ich mit meinem Stuhl ein Stück zurück. »Ich erkläre Ihnen gerade etwas. Haben Sie gefälligst die Höflichkeit, mich dabei nicht zu unterbrechen, wenn Sie schon nicht pünktlich sein können!« Einen Augenblick lang starrt er mir direkt und unverblümt in die Augen. Sein Blick hält den meinen fest und bohrt sich tief in mich hinein. Ich könnte hier genau so gut nackt sitzen, ich könnte mich nicht verletzlicher fühlen.
»Das Wichtigste ist die absolut zuverlässige Erfüllung Ihrer Aufgaben. Sie müssen lernen, alle Eventualitäten einzukalkulieren und Ausweichmöglichkeiten zu schaffen, bevor es zu spät ist.«
Das leuchtet ein. Und trotzdem regt sich in mir Trotz. »Wie hätte mein Plan B in diesem Fall denn aussehen sollen?«, frage ich. »Ich konnte ja schlecht die Fluggesellschaft bestechen.«
Starr lacht unfroh. »Sagen Sie mir, wie der Plan B hätte aussehen können.«
»Ich sagte doch schon – «
»Denken Sie noch einmal nach. Oh, ich will nicht so sein, ich gebe Ihnen einen Tipp: Wie spät sind Sie am Flughafen eingetroffen? Beginnen Sie an dieser Stelle mit Ihrer Planung.«
Was zum Teufel meint er? Ich bin gegen halb drei morgens am Flughafen eingetroffen. Früh genug, um – Moment. Ich beginne laut zu denken. »Ich habe den Flughafen gegen 2:30 Uhr morgens betreten und dort entdeckt, dass mein Flug verschoben wird. Allerdings zunächst nur auf 5:50 Uhr.« Meine Gedanken spinnen sich weiter, es geht plötzlich wie von selbst. »Ich hätte mich darauf allerdings nicht verlassen dürfen. Ich hatte von da an noch 8 Stunden Zeit bis zu unserem Termin.« Ich blicke auf, direkt in Starrs Gesicht, der interessiert meine Miene studiert. »Ich hätte einen Mietwagen nehmen können. Die Fahrt von Pittsburgh nach New York dauert knappe 6 Stunden. Ich hätte den Wagen an einer Station in den äußeren Stadtbezirken abgeben können und genug Zeit gehabt, mit der U-Bahn bis an mein Ziel zu fahren.« Die Erkenntnis trifft mich selbst wie ein Schlag. »Ich wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit pünktlich gewesen.« Verdammt, und warum fällt mir das jetzt erst ein, wo es mir nichts mehr nützt?
Einen Moment lang starrt Starr mich noch mit undurchdringlicher Miene an. Dann lächelt er anerkennend und klatscht ein paar mal in die Hände, während er wieder gemessenen Schrittes den Schreibtisch umrundet. »Gut gemacht, Philip. Wirklich gut. Sie haben mit Ihrer Unpünktlichkeit keinen sonderlich guten ersten Eindruck bei mir hinterlassen – ich hasse Unpünktlichkeit! - aber ich sehe, dass Sie durchaus in der Lage sind, Fehler zu reflektieren und Problemlösungen zu finden. Sie können dazulernen. Das gefällt mir.«
Moment mal, habe ich mich da gerade verhört? Habe ich schon Wahnvorstellungen? Ich sitze hier wie ein umgefallener Sack Reis, ich habe den Boss eines der erfolgreichsten Unternehmen Amerikas fast eine halbe Stunde auf mich warten lassen und nun spricht er mir ein Lob aus? Das ist fast ein wenig zu viel für mich. Aber nur fast. Ich richte mich auf, setze mich gerade hin und straffe meine Schultern. Ich werde kämpfen. Scheiße, ja, das werde ich! Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren, sagt die eine innere Stimme zu mir, die nach Emily klingt. Aber vielleicht spielt er nur mit dir, um dich dann hinauszuwerfen, sagt die andere, die leider sehr viel mehr nach mir klingt.
Starr blättert wieder in den Unterlagen. »Sie haben eine Zeit lang für Berkshire Hathaway gearbeitet?«, fragt er. »In welchem Bereich?«
»Medien.«
»Genauer?«
»Business Wire.«
»Ah.« Er nickt. »Und weshalb haben Sie sich nicht dort beworben?«
»Das habe ich«, gestehe ich kleinlaut.
»Aber man hat Sie nicht genommen«, schlussfolgert Starr richtigerweise. »Woran lag das?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Mr. Starr. Man hat die Absage nicht begründet.«
»Und was denken Sie, Philip?«
»Ich denke – « Ich komme ins Stocken. Ich weiß nicht, warum man mich nicht genommen hat. Wahrscheinlich bin ich einfach zu schlecht. Aber das kann ich hier so nicht sagen. Wie um alles in der Welt soll ich das formulieren, ohne am Ende wie ein Versager dazustehen?
Aber Starr erlöst mich, indem er einfach weiterspricht: »Ich soll also die Krumen aufpicken, die Warren Buffetts Wasserträger vom Tisch fallen lassen. Denken Sie, ich habe das nötig, Philip?«
Wie konnte ich nur glauben, es sei noch nicht alles verloren? Wie konnte ich nur jemals denken, ich hätte noch eine Chance? Spätestens als Mason Starr persönlich aus dem Aufzug gestiegen ist, hätte ich wissen müssen, dass alles verloren ist. Mein Gefühl war richtig: Er spielt mit mir. Er macht sich über mich lustig, um mich dann in den Dreck zu treten. So ein Mensch ist er. »Nein«, krächze ich resigniert. »Das haben Sie selbstverständlich nicht nötig.«
Starr schnalzt mit der Zunge. »Hören Sie auf, so ein Arschkriecher zu sein, Philip. Ich hasse sowas. Ich sage Ihnen etwas: Wenn Buffetts Leute alle Bewerber mit Potential vom Markt nehmen würden, dann wäre mein Unternehmen nicht so erfolgreich. Ich profitiere von Potentialen, die andere verkennen. Wissen Sie was, Philip? Selbst ich war einst ein verkanntes Potential. Und wenn mich mein Gefühl nicht trügt – und das tut es selten - könnten Sie auch eines sein.«