Das einsame Herz des Mr. Crossgrove

Leseprobe


Viktorianisches England um 1855

Nur nicht schlafen.

Mit Gewalt zwang Billy seine Lider auseinander und stierte auf die Kardiermaschine. Zum Glück herrschte hier ein ohrenbetäubender Lärm, sodass er merkte, dass er zu weit abdriftete, wenn das vielfache Kawumm-Kawumm-Kawumm der Maschinen in der Fabrikhalle immer leiser und dumpfer wurde.

Der permanente Lärm hatte sein Gehör bereits geschädigt und manchmal hörte er ihn noch in der Nacht, wenn er die Fabrik längst verlassen hatte. Wie eine Heimsuchung. Doch jetzt wurde er wieder leiser, Billy riss erneut die Augen auf.

Die Fasern. Ich muss die Fasern gleichmäßig vorlegen, damit das Vlies ordentlich wird. Schlechte Qualität bringt weniger Geld.

Er stierte abermals auf die Kardiermaschine, mit deren Hilfe Billy eigentlich die losen Baumwollfasern zu Vliesen verarbeitete, die dann später zu einem Garn gesponnen und am Ende zu Baumwollstoff gewebt wurden. Aber sein Kopf war zu träge, um zu begreifen, was er hier tun sollte, obwohl er seit etlichen Jahren hier arbeitete. Es war heiß und stickig in der Karderei, die Luft zu zäh zum Atmen. Einen Moment sah Billy an die Decke, folgte mit Blicken den tanzenden Flocken, die auf ihn und die anderen Arbeiter herabrieselten, und stellte sich vor, sodass es Schnee war. Kühlender Schnee, wie er gestern auf dem Heimweg gefallen war. Aber es waren Baumwollflocken. Feine Fasern, die seine Haut jucken ließen und sich in seiner Lunge festsetzten, dass er andauernd husten musste.

Mr Crossgrove, der Fabrikbesitzer, hatte versprochen, im neuen Jahr gegen die Flocken Windräder in den Fabrikhallen installieren zu lassen, damit seine Arbeiter weniger davon einatmeten und nicht krank wurden. Manche starben daran. Aber an diese Windräder würde Billy erst dann glauben, wenn er sie sah.

Der Lärm wurde wieder leiser. Nur einen Moment, sagte er sich im Stillen, nur einen ganz kleinen Moment.

Er schloss seine Augen. Keinesfalls durfte er einschlafen, er war schon zweimal dafür verwarnt worden, ein drittes Mal blieb es bestimmt nicht bei einer Warnung. Aber er war so müde. So unglaublich müde.

Ein schönes, weiches, warmes Bett.

Das war der Traum seines Lebens, ein Bett mit Daunenkissen und eine Vorratskammer voller Essen. Er stellte sich vor, wie ein solches Kissen sich anfühlen musste, und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Schwäche durchzog seinen Körper. Er spürte, wie er schwankte, wollte seine Lider heben, aber sie waren zu schwer. Viel zu schwer.

»Billy, du schläfst ein!«, rief warnend Jim Hollins, der an der Kardiermaschine neben ihm stand.

»Nein«, widersprach er. »Ich schlafe nicht ...«

Er glitt hinüber in das andere Bewusstsein. Fiel aus der Höhe seines eigenen Körpers. Und wurde brutal gepackt und wieder hochgerissen.

»Das war das letzte Mal!«, brüllte ihm eine zornige Stimme entgegen.

Heißer Atem aus der Hölle traf auf sein verschwitztes Gesicht. Endlich schaffte er es, die Augen zu öffnen. Und wurde vom zornglühenden Blick Crossgroves durchbohrt.

»Fürs Schlafen bezahle ich dich nicht, du Nichtsnutz!« Crossgrove rüttelte ihn, dass seine Kiefer aufeinanderschlugen. Er war ein noch recht junger Fabrikant, etwa Mitte dreißig, aber er konnte auch so streng sein wie die Alten. Der Hauptgrund, warum viele hier arbeiteten, war, dass er seine Arbeiter besser bezahlte. Hier bekam Billy zehn Shilling in der Woche; in der Fabrik, in der er vorher gearbeitet hatte, nur acht. Es war eine harte Arbeit und dennoch eine der besseren. Aber jetzt war es vorbei. Weil Billy eingeschlafen war.

»Ich hab nicht geschlafen«, verteidigte er sich halbherzig, weil er wusste, dass er sehr wohl geschlafen und Crossgrove ihn dabei gesehen hatte. »Ich hab nur kurz die Augen geschlossen, weil sie von den herumfliegenden Fasern gebrannt haben.«

Die dunklen Brauen seines Arbeitgebers zogen sich noch mehr zusammen und ließen seinen ohnehin oft grimmigen Blick düsterer denn je erscheinen. »Du besitzt allen Ernstes auch noch die Dreistigkeit, mich für dumm verkaufen zu wollen?«, herrschte er Billy an. »Ich habe dich beobachtet. Du bist immer wieder weggenickt und das war nicht das erste Mal. Verschwinde von hier und komm nie wieder. Ich werde deinen Arbeitsplatz jemandem geben, der pflichtbewusster ist!«

Schlagartig war Billy hellwach und begann zu begreifen, was hier gerade passierte. Etwas, was nicht passieren durfte, denn es wäre das Ende, nicht nur für ihn, sondern auch für die, die er zu versorgen hatte. Er würde eine schlechter bezahlte Arbeit in einer anderen Baumwollspinnerei annehmen müssen. Wenn man ihm überhaupt eine gab, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass er bei der Arbeit einschlief.

»Bitte«, flehte er, »bitte schmeißen Sie mich nicht raus. Ich verspreche, es kommt nie wieder vor. Ich war einfach übermüdet, weil ich in den letzten Wochen so wenig Schlaf hatte. Ich muss mich allein um meine Familie kümmern ...«

»Das müssen andere hier auch und schlafen mir trotzdem nicht vor den Maschinen ein.«

Gern wollte Billy widersprechen. Insbesondere die Kinder, die an den Spinnmaschinen arbeiteten, weil ihre Hände klein genug waren, um in die arbeitende Maschine zu fassen und lose Enden des Garns zu verknoten oder die Fasern unter den Maschinen aufzusammeln, schliefen immer wieder vor Erschöpfung ein. Was viel zu häufig zu entsetzlichen Unfällen führte.

»Bitte geben Sie mir noch eine Chance«, bettelte er leise.

»Du hattest genug Chancen«, grollte Crossgrove. »Noch eine bekommst du nicht. Verschwinde, oder ich lasse dich hinauswerfen. Hol dir deinen letzten Lohn ab und komm nie wieder hierher.«

»Sir, bitte!«, flehte Billy. »Meine Familie wird verhungern, wenn ich keine Arbeit habe!«

»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du deine Arbeitszeit für ein Schläfchen nutzt«, versetzte Crossgrove unbeeindruckt und wandte sich ab. »Schafft ihn hier raus!«, rief er zu niemand Bestimmtem, aber Jim kam zu Billy herüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Besser, du gehst«, raunte er ihm zu. »Sonst wird er dich mit Gewalt rauswerfen lassen und den anderen Baumwollfabrikanten sagen, dass sie dich nicht einstellen sollen.«

»Sie bezahlen alle schlechter«, erwiderte Billy erstickt. »Es reicht so schon kaum. Sie werden mich und Maggy ins Arbeitshaus schicken und mich wie einen Sklaven für das bisschen Essen und Unterkunft schuften lassen, das ich dort bekomme, und die Kleinen kommen ins Waisenhaus.«

Jim, der vom Alter her sein Vater sein könnte, senkte den Blick. »Es tut mir leid, Junge.«

»Du kannst ja nichts dafür.«

 

Mit hängenden Schultern nahm Billy seine Jacke, holte seinen letzten Lohn ab und verließ die Fabrik. Für immer. Als er das große Tor hinter sich schloss und ins Freie trat, hörte es auf, zu schneien.

 

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