Verwirrt und fassungslos drehte er sich zum Fenster neben der Tür und spähte hinein. Zuerst erkannte er nichts Ungewöhnliches, aber dann sah er eine Art Bündel auf seiner Sitzbank liegen. Jemand war in sein Haus eingedrungen und hatte sich dort dreist und frech zur Ruhe gelegt.
»Na warte«, knurrte Quintus und öffnete die Tür, aber leise und langsam, weil er sich den dreisten Eindringling erst ansehen wollte, ehe er entschied, auf welche Art er ihm das Fell über die Ohren zog.
Mit bedächtigen Schritten trat er ein. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen und erinnerten ihn daran, dass er sie einmal wieder ordentlich festnageln musste. Den ungebetenen Gast schreckte das Geräusch jedoch nicht auf, er hörte ihn immer noch gleichmäßig atmen, gar ein wenig schnarchen.
Quintus schaute über den Tisch auf die Sitzbank. Dort lag er, der Tunichtgut, und schlief tief und fest, als sei er nicht einfach in ein fremdes Haus eingedrungen. Fassungslos schüttelte Quintus den Kopf und nahm den Kerl in Augenschein. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig. Klein und ziemlich dürr, das Haar rötlich. Winzige Puschel wuchsen auf den Spitzen seiner Ohren und den buschigen Schweif hatte er sich wie eine Decke um die Hüften gewickelt.
Ein Eihhurno, stellte Quintus erstaunt fest. Jedenfalls war er sich ziemlich sicher. Er hatte im echten Leben noch nie einen gesehen, aber er kannte sie aus Bilderbüchern.
Was hatte dieser Bub hier verloren? Zumindest konnte dieser Hänfling ihm nicht gefährlich werden, so viel stand fest. Sollte er ihn wecken oder sich den Spaß gönnen und warten, bis er von selbst aufwachte und dann feststellte, dass der Hausherr zurückgekehrt war?
Quintus entschied sich für Letzteres. Er hatte durchaus schon Gäste hier im Haus gehabt, verirrte Wanderer, aber keiner hatte sich einfach selbst Zutritt verschafft, und das war alles Jahre her. Er war gespannt, welche Ausreden der Kleine wohl für seine Frechheit vorzubringen hatte.
Bis dahin würde sich Quintus seine wohlverdiente Schale Eintopf gönnen, dazu eine Scheibe Erdapfelbrot mit cremiger Nussbutter und einen Becher Met.
Leise feixend ging er hinüber zum Herd. Er war noch immer wütend, aber er sah sich und sein Heim nicht mehr in Gefahr.
Doch als er den Deckel seines gusseisernen Suppentopfs anhob, wartete die nächste Überraschung auf ihn: Der Eintopf war zur Hälfte aufgegessen!
»Also ... das ist doch ...« Fassungslos drehte er sich zu dem Eindringling um, der immer noch leise schnarchte und dessen Schweif dabei hin und wieder hektisch zuckte.
Dass auch der halbe Met ausgetrunken war, überraschte Quintus schon nicht mehr. Dieses Eichhörnchen war nicht nur hier eingebrochen, sondern hatte sich auch noch fröhlich an seinem Essen und Trinken bedient.
Na, der Kleine konnte sich frisch machen, sobald er aufwachte. Denn wenn es um sein Essen ging, verstand Quintus keinen Spaß.
*
Langsam wurde er wach. Tastete neben sich, versuchte, den Untergrund zu spüren. War es Moos? War er wieder dort, wo er das letzte Mal aufgewacht war?
Nein.
Es fühlte sich weich an, aber es war kein Moos. Es war Stoff. Eine Wolldecke. Allmählich fiel es ihm wieder ein: das Haus. Die Suppe, der Met. Dann die Müdigkeit. Er hatte sich nur einen Moment ausruhen wollen.
»O nein!« Er fuhr hoch. Wie lang war dieser Moment jetzt schon? Er wollte doch längst verschwunden sein!
»Hat dir mein Eintopf geschmeckt?«
Mit einem Aufschrei sprang er hoch, stieß sich schmerzhaft das Knie an der Tischplatte und plumpste zurück auf die Sitzbank, auf der er eingeschlafen war.
Der Hausherr war zurück. Und er schien nicht glücklich zu sein. Was überhaupt nicht gut war, denn der Mann war kein harmloser Kerl, sondern ein wahres Ungeheuer! Riesengroß, Arme wie Baumstämme, ein dichter, brauner Bart und Hände wie Pranken.
»B-Bero«, stammelte er schockstarr. »D-du bist ein Bero.« Ein Angehöriger des Bärenvolks. So viel war klar.
»Und du ein Eichhörnchen. Ich habe dich etwas gefragt.« Seine Stimme war tief und bedrohlich, die dunklen Augen in dem sehr maskulinen Gesicht bohrten sich regelrecht in ihn.
»Es tut mir leid«, erklärte er eilig, »ich wollte mich nur kurz ausruhen, ich bin den ganzen Tag gelaufen ...«
»Ah, und dann gehst du einfach in fremde Häuser, bedienst dich dort unerlaubt an Essen und Trinken und legst dich einfach schlafen?«
»Nein, so war das nicht!«, widersprach er. »Ich meine ... doch, schon irgendwie, aber es war keine Absicht. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin.«
»In meinem Haus im Gebirgswald. Wer bist du? Wie ist dein Name?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du willst mich wohl zum Narren halten!« Der Bero stieß ein tiefes Grollen aus und zeigte seine auffälligen Eckzähne.
Er wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand, sah sich panisch nach einem Fluchtweg um und fand keinen. Der andere würde ihn in Stücke reißen, so, wie er ihn ansah.
»Ich ... ich weiß es wirklich nicht«, beteuerte er.
»Du musst doch wissen, wie du heißt!«
»Das sollte ich, nicht wahr?« Er schluckte gegen die Angst an, die seine Kehle zuschnürte. Wäre er doch nie auf dieses Haus gestoßen, wahrscheinlich wäre es draußen in der Wildnis weniger gefährlich gewesen. »Aber ich fürchte, ich habe es vergessen. Genauso, wie ich vergessen habe, wie ich hierhergekommen bin. Nicht in dieses Haus, das weiß ich noch, aber davor ...«
Der Hausherr zog seine buschigen Brauen zusammen. »Ich glaube dir kein Wort.«
»Das kann ich verstehen ... ich ... würde mir wohl auch nicht glauben.« Er griff in seine Tasche und holte den Stein hervor. »Hier, nehmt den für Eure Umstände. Aber bitte, reißt mich nicht in Stücke und fresst mich.«
»Dich in Stücke reißen und fressen?« Der andere schnaubte. »Ich bin doch kein Ungeheuer!«
Du siehst aber wie eins aus, durchfuhr es ihn.
»Du willst mir also erzählen«, fuhr der Bero fort, »dass du deinen Namen nicht kennst und einfach so vom Himmel gefallen bist?«
»Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber ich kann es nicht erklären, weil ich selbst keine Ahnung habe, was passiert ist. Ich bin heute Morgen in einer Waldlichtung aufgewacht, ganz allein, und konnte mich an nichts mehr erinnern. Wie ich dorthin gekommen bin, wer ich bin ... nichts. An andere Dinge konnte ich mich erinnern – was Vögel und Bienen und Bäume und Tag und Nacht sind und dass es eigentlich noch andere Geschöpfe auf dieser Welt geben muss, also bin ich losgelaufen, in der Hoffnung, auf irgendjemanden zu treffen, der mir hilft. Ich fand Euer Haus, habe geklopft, aber niemand war da. Ich war so erschöpft und hungrig, dass ich einfach hineingegangen bin. Eigentlich wollte ich mich nur kurz ausruhen, aber ...«
»Aber dann hattest du Hunger und Durst und wurdest müde.«
Er nickte betreten. »Genau.«
Der Hausherr lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der mächtigen Brust. »Eine ziemlich abenteuerliche Geschichte, die es mir schwerfällt, zu glauben. Andererseits – ich habe in Geschichten schon von Leuten gelesen, die gestürzt sind, sich den Kopf angeschlagen haben und sich dann an vieles nicht mehr erinnern konnten.«
»Ja ... vielleicht ist mir das passiert. Vielleicht war ich unterwegs, wer weiß wohin.« Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich hatte aber kein Gepäck bei mir, als ich aufgewacht bin. Nur die Kleider an meinem Leib.«
»Vielleicht hat man dich ausgeraubt«, überlegte der andere.
»Möglich. Aber hätten die Räuber dann nicht den Stein mitgenommen?«
Der Blick des Bero fiel auf den violetten Stein, der noch immer vor ihm auf dem Tisch lag. »Das hätten sie wohl. Außer, sie haben nicht in deiner Hosentasche nachgesehen.« Er sah auf und musterte ihn. »Dein Kopf sieht allerdings heile aus.«
Wie von selbst fasste er sich an die Schläfe. »Vielleicht ist innen etwas kaputt und außen nicht sichtbar.«
»Ja, vielleicht.« Der Hausherr nahm den Stein, wog ihn kurz in einer Hand und schob ihn wieder über den Tisch zu ihm. »Behalte ihn. Irgendwie tust du mir leid, deshalb erlaube ich dir, heute Nacht als mein Gast hierzubleiben. Ich will keine Bezahlung, aber morgen früh bist du verschwunden. Ist das klar?«
Eine Welle von Erleichterung überrollte ihn und er faltete dankbar die Hände. »Ja, mein Herr. Ich danke Euch so sehr, denn ich hätte nicht gewusst, wohin ich heute Nacht gehen soll. Ich verspreche, Euch keine weiteren Umstände zu machen und auch nichts mehr zu essen und zu trinken.«
»Unsinn«, versetzte der Bero harsch, »bist ja rappeldürr und ausgezehrt. Hier, iss noch ein paar Scheiben Brot mit Nussbutter und Honig, damit du zu Kräften kommst und morgen weiterwandern kannst.«
»Ihr seid so gütig. Wie soll ich Euch das je danken?«
»Indem du morgen weg bist und nie wieder in mein Haus einbrichst, Hörnchen.«
Er nickte eifrig, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein und sogar noch mehr zu essen zu bekommen. »Versprochen.«
»Na schön. Ich lege noch ein bisschen Holz nach, die Nächte sind mittlerweile wieder empfindlich kalt geworden.«
Hörnchen beobachtete den großen, kräftigen Mann dabei, wie er die Ofenluke öffnete und mehrere dünne Scheite hineinlegte, die in der noch heißen Glut sofort Feuer fingen und knisternd zu brennen begannen. Mollige Wärme erfüllte den Raum.
Erneut überkam ihn bleierne Müdigkeit, aber bevor er wieder wegnickte, stellte er noch eine Frage, die ihm auf der Zunge brannte: »Wie ist denn Euer Name?«
Sein Gastgeber, der ihnen gerade Brote schmierte, warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Mein Name ist Quintus«, gab er zur Antwort. »Nach meinem Urgroßvater.«