Das Herz des Nebels

Leseprobe


»Also ...«, druckste Arn verlegen herum, »habt Ihr ... habt Ihr schon mal den Sternenhimmel gesehen?«

Überrascht blickte Thornan auf. »Natürlich. Du nicht?«

Arn schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen das dunkel gebeizte Türblatt. »Nein. Mein Vater hat nicht gelogen, als er sagte, dass wir uns so eine Reise nicht leisten können. Ich kenne nur den Nebel. Mal mehr und mal weniger dicht, aber der Himmel bleibt immer bedeckt. Manchmal habe ich mich gefragt, ob die Sterne vielleicht gar nicht existieren, sondern nur irgendeiner Fantasie entsprungen sind. Aber nur, weil ich etwas nicht sehen kann, heißt das doch nicht, dass es nirgendwo existiert, oder nicht?«

»Sehr richtig, sehr richtig.« Thornan zündete seine Pfeife an und Arn fragte sich, wie alt der Mann wohl sein mochte. Vielleicht zehn, zwölf Jahre älter als er selbst? »Das eine, große Wesen sieht man ja auch nicht und trotzdem ist es da.«

»Ihr glaubt an das eine, große Wesen?«, platzte Arn aufgeregt heraus.

»Ja.« Thornans Blick wurde misstrauisch, während er an seiner Pfeife zog. Kleine, graue Schwaden waberten in die Luft, als er den Mund wieder öffnete. Wie winzige Nebelgeister. Der süßliche Geruch von Tabak stieg in Arns Nase. »Du nicht, nehme ich an?«

»Doch, doch! Aber leider bin ich der Einzige in meiner Familie. Es werden auch im Dorf immer weniger. Wir haben einen neuen Schamanen, deshalb kommen aus reiner Neugier gerade wieder mehr Leute zum heiligen Ritual, aber ich fürchte, das wird bald wieder nachlassen. Ich verstehe nicht, wieso. Man spürt es doch. Ich spüre es jedenfalls und ich begreife nicht, warum es die anderen anscheinend nicht mehr tun.«

»Tja.« Nachdenklich zog Thornan wieder an seiner Pfeife. »Der Sternenhimmel ist ein faszinierendes Gebilde. Eine Kuppel weit über unseren Köpfen, mit Abermillionen von Lichtern besetzt.«

»Millionen?«

Thornan nickte. »Millionen. Mehr als nur Tausende. Sie funkeln und flimmern, dass es eine Freude ist, und ihr König ist der Mond.«

»Er soll wie eine Sichel aussehen, habe ich gehört.« Arn trat einen Schritt zur Seite und setzte sich auf die Bank.

»Es ist unterschiedlich. Er verändert sich jeden Monat einmal vollkommen. Erst taucht eine ganz schmale Sichel auf, sie wird voller, zu einer Hälfte und schließlich zu einem ganzen Kreis. Danach geschieht das alles rückwärts, ehe es wieder von vorn beginnt.«

»Was gäbe ich darum, das einmal zu sehen.« Arn zupfte mit den Fingern am festen Wollstoff seiner Hose und stierte ins Leere. »Hinter dem Nebel versteckt sich so vieles. Manchmal denke ich, dass die Leute hier auch daran irgendwann zu glauben aufhören. Sie sehen ja nicht, dass da noch etwas anderes ist, also kann es nicht da sein.«

»Eine kluge Beobachtung, von der ich trotzdem nicht hoffe, dass sie wahr wird.« Thornan nahm den Bierkrug zur Hand und trank einen tiefen Schluck. »Hm. Gut. Auch wenn ich morgen wahrscheinlich Kopfweh haben werde.«

»Das ist gutes Bier, davon tut einem der Kopf nicht weh.«

»Willst du einen Schluck?«

»Wenn Ihr mir einen abgebt.«

Thornan hielt Arn den Krug hin und er nahm ihn entgegen. Er kam sich ziemlich albern vor, aber heimlich versuchte er, den Krug an genau der Stelle an die Lippen zu setzen, an der auch Thornan getrunken hatte. Das Bier tat gut, eine herbe Erfrischung, die ihm die Mutter leider viel zu selten gönnte, weil sie der Meinung war, dass junge Männer nicht so viel Bier trinken sollten. Thornan nahm den Krug entgegen und trank selbst noch ein paar große Schlucke.

»Seid Ihr schon viel herumgekommen in der Welt?«

»Ich bin gerade dabei, herumzukommen.«

»Verstehe. Wo hat es Euch bisher am besten gefallen?«

»Ich weiß nicht.« Thornan hob die Schultern. »Vielleicht im Nebeltal?«

Arn lachte auf. »Ganz bestimmt nicht. Hier gefällt es niemandem außer denen, die hier wohnen.«

»Wer weiß, vielleicht ziehe ich ja hierher, wenn ich von meiner Reise zurückkehre.«

»Ihr macht wohl Witze?«

Thornan lächelte wölfisch. »Ja.«

»Seid froh, dass ich jung bin. Die Alten, die man nach der Vertreibung zum Leben hier gezwungen hat, könnten wohl nicht darüber lachen.«

Thornans Miene wurde plötzlich wieder ernst. »Es tut mir leid. Ich hatte nicht mehr daran gedacht.«

»Für einen Raihu wisst Ihr sehr wenig über die Geschichte unseres Volkes.«

»Das liegt wohl am Exil.« Thornan zog nochmals an seiner Pfeife und nachdem die gräulichen Schwaden seinem Mund entstiegen waren, trank er den nächsten Schluck Bier. »Meine Güte, dieses Gebräu ...«

»Trinkt nur nicht zu schnell, sonst seid Ihr bald ganz schön beschwipst.«

»Das bin ich schon«, murmelte Thornan und löschte seine Pfeife.

»Habt Ihr das Meer schon mal gesehen?«

»Noch nicht, aber ich hoffe, das wird sich bald ändern.«

»Ich beneide Euch ein bisschen«, gestand Arn und kratzte sich verlegen an der Wurzel seines Geweihs.

»Tu das nicht. Sei mit dem zufrieden, was du hast, und, ganz wichtig, verlier deinen Glauben nicht. Wenn wir nicht mehr an das eine, große Wesen glauben, dann glaubt das Wesen auch nicht mehr an uns.«

»Was meint Ihr damit?«

»Genau das, was ich sage.« Thornan trank das restliche Bier aus und erhob sich schwankend. Er war so groß, so stark, ohne bullig zu sein. Unter seiner groben, dunklen Kleidung, die aus einem dicken Wollhemd, Hose und Stiefeln bestand, zeichnete sich eine ansprechende Silhouette ab. Sein Gesicht wirkte allerdings immer etwas mürrisch, wenn er nicht lächelte. »Bekomm ich noch ein Bier?«

»Ähm ... seid mir nicht böse, aber ich denke, Ihr hattet genug Bier. Ihr schwankt ja schon im Stehen.«

»Gar nicht wahr.« Thornan eierte ein paar Schritte auf ihn zu und grinste wie ein Depp. »Dein Geweih ist niedlich, kleines Rehlein.« Er streckte die Hände aus und fasste es an. Arn zuckte zusammen, als die warmen, rauen Finger über die empfindliche Basthaut strichen. »Niedlich und samtig. Genau wie du. Gibst du mir einen Kuss?«

»W-was?«, fragte Arn verdutzt. Das Herz schlug ihm bis zur Kehle. Thornan war eindeutig angetrunken. Wäre es nicht verwerflich, sich in diesem Zustand von ihm küssen zu lassen? Bisher hatte Arn nur die hübsche Min geküsst, das war fünf Jahre her. Alle Jungen waren in Min verliebt gewesen, aber sie hatte Arn auserwählt. Er hatte ein paar Gewissensbisse gehabt, weil er wohl als Einziger nicht in sie verliebt gewesen war, sondern von anderen Jungen träumte. Das hatte sich nie gegeben, außer, dass aus den Jungen in seinen Träumen Männer geworden waren. Es war nicht verboten, das gleiche Geschlecht zu lieben, aber auch nicht gern gesehen, weil keine Kinder daraus hervorgingen. Keine Nachkommen, die die Familienlinie weiterführten.

Aber ich habe ja noch Geschwister.

Thornans Gesicht kam näher, Arn betrachtete den dunklen Schatten, den die nachwachsenden Bartstoppeln auf seine Wangen warfen. Die Hände fummelten noch immer an Arns Geweih. »Hmm, du süßes Reh ... nur einen Kuss, ja?«

Der Mann war eindeutig betrunken. Aber Arn drückte ihm trotzdem einen kleinen Schmatzer auf die festen Lippen. So eine Chance bekam er ganz sicher kein zweites Mal.

»Das nennst du einen Kuss?«, brummte Thornan und attackierte ihn mit dem, was er wohl unter einem Kuss verstand. Mit Einsatz der Zunge.

Arn öffnete seinen Mund und gab sich bereitwillig hin, schmeckte Bier und Pfeifentabak, aber auch etwas anderes, das er sich immer erhofft hatte bei der Vorstellung, einen Mann zu küssen. Er fand kein Wort dafür. Es war einfach da. Und es war genau das, was bei dem Kuss mit Min gefehlt hatte.

Thornan zog ihn zu sich hin und drückte ihn an sich. Das Bier schien seiner Standfestigkeit in gewissen Bereichen nichts anzuhaben, Arn spürte die harte Wölbung, die sich gegen seinen Bauch drückte.

»Ihr küsst sehr gut«, murmelte Arn, als Thornan für einen kurzen Moment absetzte, um Luft zu holen.

»Das ist nicht schwer, wenn jemand so gut schmeckt. Bringt man im Nebeltal einen Gast auch ins Bett, Böckchen?«

»Ich heiße Arn. Und ja, wenn der Gast das will ...« Arn schob den schwankenden Thornan rückwärts zum Bett und fragte sich, woher er diesen Übermut nahm. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Wie es sozusagen richtig ging.

Thornan ließ sich rücklings mit ihm aufs Bett fallen, kraulte ihn im Nacken und bedeckte sein Kinn mit kleinen Küssen. »Zieh deine Hose aus«, raunte er.

Arn lehnte sich zurück und machte sich mit klopfendem Herzen an der Schnürung seiner Hose zu schaffen. So etwas Verrücktes hatte er noch nie getan, aber im Nebeltal passierten viel zu selten außergewöhnliche Dinge. Er stellte sich schon vor, wie er sich nackt mit Thornan durch die Laken wälzte, als ein seltsames Geräusch in seine Gedanken sägte. Fassungslos blickte er auf Thornan hinab, der die Augen geschlossen hatte und mit weit aufgesperrtem Mund schnarchte.

»Ist das denn zu fassen?«

Er stupste Thornan an, aber der ratzte unbeeindruckt weiter. Seufzend stieg Arn von ihm herunter. So eine aufregende Nacht mit einem geheimnisvollen Fremden wäre ja auch zu schön gewesen. Am Ende musste er wohl doch Min heiraten und bis an sein Lebensende töpfern. Er zog dem schlafenden Thornan die Stiefel aus, deckte ihn zu und löschte die Lampe, bevor er die Kammer verließ. Trotz dieser kleinen Pleite nahm er sich vor, morgen früh noch einmal das Gespräch mit Thornan zu suchen, bevor der seine Wanderung durch das Nebeltal fortsetzte. Man konnte nie wissen, vielleicht erfuhr Arn noch etwas Interessantes. Oder bekam noch einen Kuss.

 

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