Das Lied der letzten Drachen


Nins Schritte hallten von den hohen Felswänden wider, als er durch eine Art Tunnel eine weitläufige Kammer betrat. Die Decke war so hoch, dass er sie nicht einmal genau erkennen konnte, weil das Licht seiner Fackel sie nicht erreichte. Diese Höhle hier war auf jeden Fall groß genug, um einen Drachen zu beherbergen. Doch die einzigen Geräusche waren das leise Tropfen von Wasser und sein zitternder Atem.

»Wo bist du?«, fragte er leise und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Das Herz klopfte ihm bis in die Kehle. »Bist du noch am Leben?«

»Drachentöter sind offenbar auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Nin erschrak bis ins Mark und ließ seine Fackel fallen, die nicht erlosch, aber ein gutes Stück von ihm wegrollte. »Wer ist da?«, rief er und presste sich die Hand an die Brust. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor.

»Na, na. Wir wollen doch nicht gleich in Panik geraten.«

Jemand hob die Fackel auf ... und reichte sie ihm. Zögerlich nahm Nin sie entgegen. Er brauchte einen Moment, um die Silhouette im Licht zu erkennen. Strenge Gesichtszüge schälten sich aus der Dunkelheit. Und ließen Nin atemlos zurück.

»Herr Ardnâ?« Er taumelte einen Schritt zurück und rang um Fassung. »Was tut Ihr hier?«

Herrn Ardnâs Brauen zogen sich zusammen, seine Augen verengten sich. Plötzlich blitzte Erkenntnis in seinen Zügen auf. »Der Junge vom Markt.« Er klang erstaunt. »Der Prinz mit der Liebe zu alten Büchern in marudischer Schrift.«

»Genau der bin ich«, erwiderte Nin, vor Erleichterung fast schon lachend. »Genau der. Ich kann nicht fassen, dass Ihr hier seid! Ich ... ich bilde mir das doch gerade nicht ein, oder?«

»Nein, ich stehe tatsächlich vor Euch. Mit einer gewissen Überraschung, wie ich zugeben muss.«

Nin schluckte aufgeregt. »Seid Ihr auch hier, um den Drachen zu töten?«

Herr Ardnâ hob eine Braue, wirkte fast schon pikiert. »Seid Ihr deswegen hier?«

»Ja«, gab Nin zu, »wenn auch nicht freiwillig.«

»Wer oder was zwingt Euch?«

»Mein Vater.«

Herr Ardnâ nickte und senkte den Blick, ließ Nin aber nicht aus den Augen. »Fürst Dakhos von Iru.«

»Kennt Ihr ihn?«

»Nur, was man sich so über ihn erzählt«, gab er zu, »ich bin ihm nie begegnet. Nur seinem Bruder, vor vielen Jahren.«

»Der Drache hat seinen Bruder vor über vierzig Jahren getötet. Ihr seht nicht so alt aus, als könntet Ihr das schon miterlebt haben.«

»Was Ihr nicht sagt.« Herr Ardnâ lachte leise, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, in der Höhle umherzulaufen. »Und Ihr denkt, Ihr seid derjenige, der den Drachen töten wird? Hat man Euch etwas von einer Prophezeiung eingeredet?«

»Was heißt eingeredet«, gab Nin zur Antwort, »die Prophezeiung wird seit Generationen überliefert. Aber nein, ich glaube nicht, dass ich derjenige bin. Der Drache wird mich töten, nicht ich ihn.«

»Kluges Köpfchen.« Herr Ardnâ drehte sich zu ihm um und nickte.

»Vielleicht schafft Ihr es ja.«

»Den Drachen zu töten?« Er schnaubte und zeigte ein winziges Lächeln. Schatten tanzten auf seinem schönen und doch so düsteren Gesicht und etwas in seinen Augen schien aufzuflackern. »Das ist nicht meine Intention. Es erscheint mir so ... zerstörerisch. So primitiv.«

»Interessant.«

»Ach ja?«

»Ja. Alle anderen wollen die Bestie einfach nur loswerden.«

»Die Bestie«, Herr Ardnâ betonte das Wort sehr seltsam, »die Bestie hat einen Namen.«

»Wirklich?«, versetzte Nin überrascht. »Versteht mich nicht falsch – ich bin gerade einfach nur heilfroh, nicht allein hier zu sein. Ich habe mir schon auf dem Weg hierher vor Angst fast in die Hose gemacht. Aber was ist Eure Mission, wenn Ihr den Drachen nicht töten wollt? Wollt Ihr ihn erforschen? Oder ... an seine Schätze gelangen?«

Herr Ardnâ streckte eine Hand vor sich aus und betrachtete die im Fackelschein funkelnden Ringe. »Ich will nicht an seine Schätze gelangen. Ihr?«

»Sie sind mir egal. Außer, er hätte eine ganze Sammlung an alten Büchern in marudischer Schrift.« Nin versuchte, zu lachen, aber es klang mehr wie ein schrilles Kichern.

So froh er war, Herrn Ardnâ in dieser Höhle begegnet zu sein – etwas an dessen Gegenwart war auch beunruhigend. Bestand vielleicht die Möglichkeit, dass der andere ihn bei seiner wie auch immer gearteten Mission als Hindernis ansah, das ausgeschaltet werden musste?

»Wisst Ihr, ob der Drache überhaupt noch lebt?«, fragte er vorsichtig.

»O ja, er ist sehr lebendig.«

»Sicher? Er wurde lange nicht mehr gesehen.«

»Ganz sicher. Drachen zeigen sich nur dann, wenn sie auch gesehen werden wollen. Wenn nicht, können sie ganz wunderbar verschwinden.«

»Ihr scheint viel über sie zu wissen.«

»Viel mehr, als Ihr für möglich haltet, Prinz Nin-Gâl von Iru.« Herr Ardnâ lächelte, aber es hatte etwas Sinistres an sich. Seine Iriden schimmerten bernsteinfarben. »Welche Waffen habt Ihr dabei, um ... das Biest zu töten?«

»Einen Bogen, mit dem ich nur mittelmäßig schießen kann. Dazu braucht man Kraft, und Ihr seht ja, ich habe kaum welche.«

»Und was ist mit dem Schwert?« Herr Ardnâ wies auf die Scheide, in der es steckte. Er selbst schien unbewaffnet, aber wahrscheinlich hatte er sie nur gut verborgen.

»Das dient nur der Dekoration. Ich kann nicht damit umgehen.«

»Ihr seid sehr freimütig darin, Eure Schwächen zu bekennen«, bemerkte Herr Ardnâ und musterte ihn mit verengten Augen. »Vor allem vor einem Fremden.«

»Ihr seid mir nicht so fremd, da wir uns schon einmal begegnet sind.« Und ich seither jeden Tag an Euch denken musste. »Außerdem wäre Leugnen zwecklos. Es würde nichts ändern. Entweder tötet mich der Drache oder Ihr.«

Herr Ardnâ wandte sich ab und entfernte sich einige Schritte von ihm. »Was, wenn es kein oder gibt?«

 

»Was – was meint ihr damit?«  

 

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