Das Singen des Waldes

Leseprobe


Eilig zog er sich seinen Mantel über und stürzte regelrecht aus dem Gasthof. Wo war dieser diebische, kleine Fuchs? Die Magie half Grimkjell an dieser Stelle nicht weiter, denn der persönliche Gegenstand, den er brauchte, um die Spuren zu sehen, war ihm von dessen Besitzer ja gerade eben gestohlen worden. Also musste er sich auf seine ganz normalen Instinkte verlassen.

Stück für Stück suchte er die Umgebung mit den Augen ab, hielt Ausschau nach sonderbaren Schatten oder verräterischen Bewegungen. Gleichzeitig lauschte er in die Stille, die leider nicht ganz so still war, weil der Wind um die Häuser heulte. Irgendwo hier war der Kleine. Er konnte nicht weit sein; auf keinen Fall hatte er sich jetzt in der Nacht auf seine Weiterreise gemacht. Jedenfalls nicht, wenn er bei Verstand war.

Langsam schritt Grimkjell jeden Baum, jeden Busch um das Gasthaus herum ab. Auch ohne Magie konnte er spüren, dass Stanislav ganz in der Nähe war. Es war dieses Prickeln, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Und dann passierte es. Das Gebüsch direkt neben ihm nieste.

»Da bist du also!«, rief Grimkjell und machte einen Satz darauf zu.

Im gleichen Augenblick sprang der Junge aus seinem Versteck und gab Fersengeld. Doch Grimkjell, der viel längere Beine hatte, holte ihn im Nu ein, packte ihn an seinem Rucksack und zerrte ihn zurück.

»Wirst du wohl hierbleiben, du Ausreißer?«

»Lasst mich los!« Stanislav ruderte und strampelte, um sich seinem Griff zu entwinden, aber es war vergebens. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir? Und wieso habt Ihr Kisa bei Euch?«

»Wer ist Kisa?«

»Meine Puppe!«

»Ach, die. Ja, die hab ich gebraucht, um dich zu finden. Hörst du wohl endlich auf, so herumzuzappeln? Sonst hänge ich dich mit dem Kragen an den nächsten Ast.« Endlich hielt der Junge still. »Deine Eltern schicken mich, weil ich der beste Spurenleser bin. Sie sind krank vor Sorge. Ganz Windberg glaubt, du wurdest entführt.«

»Was?« Stanislav drehte sich um und runzelte die Stirn. Er war kleiner, als Grimkjell ihn sich vorgestellt hatte, ein dünner Kerl mit zu großen Füßen. Sein stupsnasiges, von Sommersprossen übersätes Gesicht erschien im Vollmondlicht allerdings deutlich hübscher als auf dem Porträt. »Ich hab doch eine Notiz hinterlassen.«

»Die haben deine Eltern offenbar nicht gefunden.«

»Ich hatte sie zusammengefaltet und auf den Esstisch gelegt. Vielleicht hat Dragomira sie beim Aufräumen versehentlich weggeworfen ...«

Grimkjell musterte ihn kopfschüttelnd. Ihm fiel auf, dass er ihn in der Stadt doch schon ein, zweimal gesehen hatte, aber nur von Weitem, weshalb er ihn auf dem Porträt nicht erkannt hatte. Es war die Gesamterscheinung, die seine Erinnerung wieder weckte.

»Seid Ihr nicht der Steinmetz?«, wollte Stanislav wissen, dem ebenfalls gerade aufgefallen zu sein schien, dass er Grimkjell von irgendwoher kannte.

»Ja, Grimkjell der Steinmetz bin ich.«

»Und wozu habt Ihr jetzt noch mal meine Puppe gebraucht? Ich konnte es gar nicht fassen, als ich Euch im Schankraum damit herumfuchteln sah. Ich hab sie gleich erkannt.«

»Dein Püppchen habe ich gebraucht, um deine Spuren zu sehen. Ich schaue mir unterwegs keine abgebrochenen Zweige oder Häufchen am Wegesrand an, sondern arbeite mit Magie. Wenn ich einen persönlichen Gegenstand eines Geschöpfs besitze, kann ich seinen Spuren folgen.«

»Oh.« Stanislav blinzelte.

»Ja, so ist das. Da wir ja jetzt geklärt haben, dass du nicht entführt wurdest und wohlauf bist, können wir morgen dann in aller Ruhe wieder nach Hause zurückkehren.«

»Nein!« Stanislav wich einen Schritt zurück. »Das geht jetzt nicht. Noch nicht.«

»Hm, lass mich nachdenken: Doch, das geht.« Grimkjell packte Stanislav beim Oberarm. »Du wirst jetzt schön mit mir mitkommen und dann bringe ich dich nach Hause zu deinen Eltern.«

Stanislav versuchte, seine Hand abzuschütteln. »Wollt Ihr mich nicht mal fragen, warum ich von zu Hause weggelaufen bin?«

»Eigentlich nicht«, entgegnete Grimkjell freimütig, »weil’s mich nicht sonderlich interessiert. Deine Eltern verprügeln dich ja nicht, oder? Sonst hättest du ihnen wohl kaum eine Notiz hinterlassen.«

»Nein, tun sie nicht. Ich bin auf der Suche nach etwas.« Stanislav seufzte und ließ seine schmalen Schultern hängen. »Wisst Ihr – meine liebste Beschäftigung ist die Magie. Ein bisschen Magie steckt ja in uns allen, aber ich wollte immer ein richtiger Magier werden, der auch mit Gestenzauberei, Zaubersprüchen und Tränken arbeiten kann. Ein praktischer Magier, wisst Ihr? Ich lese jedes Buch über Magie, das ich in die Finger bekomme und übe und experimentiere fleißig. Ich wollte auch bei einem Magier in die Lehre gehen, aber meine Eltern waren damit nicht einverstanden. Zimmermann musste ich werden.« Er verzog das Gesicht. »Wie mein Vater und mein Bruder. Was Anständiges. Aber ich betreibe die Magie trotzdem weiter. Ich brauche ein bestimmtes Kraut für einen Trank und das wächst bei uns nicht. Ich bin auf der Suche danach. Und der Wald hat mir gesagt, wo es ist.«

»Der Wald hat dir das gesagt?« Grimkjell hob eine Braue.

»Richtig, Meister Grimkjell. Das ist die Magie, die mir angeboren ist. Alles spricht zu mir, wenn ich zuhören will – die Bäume, die Vögel, die Pilze und Pflanzen. Sie leiten mich den Weg entlang. Versteht Ihr? Wenn ich das Kraut finde, kehre ich wieder zurück nach Hause.«

»Und wo ist dieses Kraut?«

»Es wächst in den Wäldern des Nebeltals.«

»Ha!« Grimkjell wandte sich zum Gasthaus und zog Stanislav ruckartig mit sich. »Wir gehen morgen nach Hause.«

»Habt Ihr mir nicht zugehört?«

»Doch, und zwar so lange, dass ich schon das Bedürfnis hatte, dir den Mund zuzunähen. Wie schon gesagt: Es ist mir völlig egal, was du hier treibst, das hat jetzt ein Ende. Du kommst mit mir nach Hause, ich kassiere meine Belohnung und dann trennen sich unsere Wege.« Er stieß die Tür zum Gasthaus auf. »Rein mit dir.«

Nur widerwillig ließ sich Stanislav in den Schankraum schieben, aber zumindest für den Moment schien er zu begreifen, dass Widerstand zwecklos war. Zumal dunkle Wolken heranzogen, den Mond verfinsterten und von nahendem Regen kündeten. Keine Nacht, in der man draußen sein wollte.

»Frau Angharad!«, rief Grimkjell fröhlich. »Ich habe meinen Schützling gefunden! Wärt Ihr so lieb und würdet ihm ein Bett in meiner Kammer richten?«

»In Eurer Kammer steht ein Doppelbett«, entgegnete die Wirtin verwirrt, »aber der junge Gast hat doch schon sein eigenes Zimmer.«

»Da wusste er noch nicht, dass wir uns heute hier treffen ...«

Stanislav rührte sich. »Ich–«

»Wie alt bist du?«, unterbrach ihn Grimkjell leise zischend in sein Ohr. »Zweiundzwanzig? Wenn du noch zweiundzwanzigeinhalb werden willst, hältst du jetzt besser deine Klappe, kleiner Fuchs, denn ich bin ein großer, böser Wolf.«

Das wirkte scheinbar, denn der Bengel zog die Lippen ein und blickte trotzig zu Boden. »Ich nehme gern ein Zimmer mit meinem alten Freund Meister Grimkjell«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Brav«, raunte Grimkjell und legte der Wirtin das Geld für Essen, Trinken und Unterkunft auf den Tresen. »Dann lass uns mal nach oben gehen. Es ist schon spät und ich war deinetwegen den ganzen Tag auf den Beinen.«

»Wie Ihr wünscht«, kam missmutig zurück und honigfarbene Augen loderten zornig.

Grimkjell lächelte versonnen und schob Stanislav die knarrenden Treppenstufen hinauf. Seine Belohnung war ihm so gut wie sicher. Bestimmt würde er heute Nacht von dem Smaragd träumen.

 

< Zurück