Es ist ein ganz normaler Tag. Am Vormittag öffnet mein Geschäft und Kunden gehen ein und aus, bekannte und unbekannte Gesichter. Eines der bekannten Gesichter ist Vince, und bei seinem Anblick muss ich zugeben, dass Blanche doch ein bisschen recht hat. Vince ist einer von denen, die meinetwegen kommen. Fairchild’s Fine Bakery ist als schwulenfreundlich bekannt und zieht entsprechende Kunden an. Leider war mein Traumprinz noch nicht darunter. Vince ist jedenfalls deutlich über fünfzig und ein ziemlicher Schmierlappen mit blankgebohnerter Glatze, Lederjacke und stets einem anzüglichen Spruch auf den Lippen. Ich habe schon erwogen, ihm ein Hausverbot auszusprechen, aber dann fürchte ich wiederum um den schwulenfreundlichen Ruf meines Kuchengeschäfts. Also lasse ich ihn weiter bei mir kaufen und herumsitzen, und ab und zu liest ihm Blanche die Leviten.
»Hallo, du süßer Muffin«, begrüßt er mich und bleckt seine unnatürlich weiß überkronten Zähne, die im harten Kontrast zu seiner ledrig gebräunten Haut stehen.
Ich habe mir irgendwann angewöhnt, nicht auf diese Ansprache zu reagieren, und schaue ihn daher nur abwartend an.
»Was hast du mir denn heute Süßes zu bieten, abgesehen von dir selbst?«
»Siehe Auslage«, gebe ich einsilbig zurück.
Vince’ Grinsen wird nicht einen Deut schmaler. Egal, was ich mache, er scheint der festen Überzeugung zu sein, mich eines Tages wie ein wildgewordener Eber besteigen zu dürfen. Aber daraus wird nichts.
»Dann gib mir doch etwas von der Schokotorte«, verlangt er, »und dazu einen Latte Macchiato. Zum hier Essen.«
»Lizzy, machst du ihm einen Kaffee?«, bitte ich liebenswürdig, weil ich weiß, dass Vince Lizzy nicht ausstehen kann.
»Ich lebe, um zu dienen«, gibt sie pathetisch aus ihren etwa zwei Meter zehn Höhe zurück und lässt die Maschine jaulen und gurgeln.
Ich richte derweil das Schokotortenstück auf einem Teller an und reiche diesen an Vince. Das heißt, ich stelle ihn auf die Theke und ziehe meine Hände eilig zurück. Das mache ich immer so, seit Vince ein paar Mal versucht hat, dabei meine Finger zu erwischen und sie mit unerwünschten Zärtlichkeiten zu attackieren.
»Das ist aber kein schöner Macchiato«, beschwert er sich bei Lizzy. »Viel zu wenig Milchschaum.«
»Babe.« Lizzy lehnt sich nach vorn über die Theke und ihre ausgestopften Brüste quellen über ihre Armbeuge. »Wenn du einen Schickimicki-Kaffee willst, dann geh zum Italiener zwei Straßen weiter oder von mir aus auch zu Starbucks. Aber komm nicht zu Lizzy.«
»Zu dir komme ich ja auch gar nicht«, erwidert Vince und hebt die Nase, bevor er sich wieder mir zuwendet und wie gewohnt schmierig grinst.
»Sieben Dollar und achtzig Cent bitte«, erkläre ich ungerührt.
Vince zahlt auf den Cent genau und begibt sich mit seinem Tablett an einen kleinen Tisch in der Ecke, von dem er mich gut beobachten kann. Ich hasse das. Aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.
»Harry? Ist Meister Proper wieder da?«, ruft Blanche von hinten aus der Backstube.
Ich feixe in mich hinein, weil ich den Spitznamen immer wieder passend finde. »Ja, ist er.«
Sie kommt zur Theke hervor und wischt einmal grundlos mit dem Lappen über die Kasse. »Spuck ihm doch mal in den Kaffee.«
»Bist du verrückt?«, zische ich unterdrückt und scheuche sie zurück in die Backstube. »Ich habe einen Ruf zu verlieren. Hast du schon Äpfel geholt?«
»Nein, aber ich wollte mich gerade auf den Weg machen. Kann ich dich alleine lassen, wenn dein Verehrer da ist? Nicht, dass der dir noch am Schokotörtchen nascht.«
Ich heule auf. Nicht nur wegen dieses Bildes, sondern auch wegen der Vorstellung. »Lizzy ist hier und passt auf mich auf.«
»Ja, wenn sie nicht gerade selber Gäste beobachtet, denen sie in Gedanken eine Keule über den Kopf zieht und sie in die nächste Höhle schleift. Ich beeil’ mich.«
Kopfschüttelnd sehe ich ihrer kleinen Gestalt hinterher, die mit dem Korb aus der Tür wackelt und dabei mit jemandem zusammenstößt. Der Mann im weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und hellgrauer Strickweste scheint sich überschwänglich zu entschuldigen, während Blanche abwinkt und ihn hinein in die Bäckerei scheucht.
Okay, ich bin dann mal sterben.
Er lächelt. Er kommt auf mich zu. Er kommt näher. Er hat dunkelbraune Haare und graue Augen. Trägt eine dünnrandige Brille. Und er lächelt. Und er kommt näher. Und er–
»Guten Tag.« Das Lächeln wird breiter. Mein Herzschlag wird schneller. »Ich war vor längerer Zeit schon einmal hier und dachte, ich schaue mal wieder vorbei.«
Erst, nachdem er mich ungefähr fünf Sekunden abwartend angesehen hat, bemerke ich, dass ich anscheinend kurz ins Wachkoma gefallen bin. Ich kann mich gar nicht an ihn erinnern. »Schön.« Wow, was für eine tolle Antwort.
Er räuspert sich verlegen und kratzt sich mit seiner wunderschönen, feingliedrigen Hand, um deren Gelenk locker eine Uhr liegt, im Genick. »Was können Sie denn empfehlen? Gibt es ein Tagesangebot?«
»Also ... ich habe ... Kuchen. Viel Kuchen.«
Er lacht. Dunkel, tief, kehlig. Ich möchte auf der Stelle Sex mit dieser Stimme. »Was Sie nicht sagen.«
Jetzt bin ich es, der sich räuspert, während ich versuche, meine Fassung zurückzuerlangen. »Meine Kuchen werden jeden Tag frisch gebacken. Besonders kann ich heute die Blaubeer-Pie und die Schokotorte empfehlen.«
»Riecht alles köstlich und sieht noch besser aus. Blaubeere oder Schoko, beides gefährlich, wenn man helle Sachen trägt, aber ich bin mutig und nehme ein Stück Blaubeerkuchen.«
»Zum ... zum hier Essen?«, stammle ich und angle blind nach meinem Tortenheber.
»Leider nicht«, gibt er bedauernd zurück, »ich muss gleich wieder los.«
Ich nicke. Wenn hier in diesem Laden etwas furztrocken ist, dann ist es mein Mund. Für Kunden, die ihren Kuchen mitnehmen wollen, anstatt ihn hier zu essen, habe ich kleine Transportboxen, die wie Geschenkkartons aussehen. Ich habe das einmal auf einer Reise nach Frankreich entdeckt und es hat mir gefallen. Sorgfältig lege ich das Stück Kuchen in die Box und mache noch eine schöne Schleife mit apricotfarbenem Band darum, bevor ich ihm das Paket auf die Theke stelle. Ich lasse noch einen Moment meine Hände darauf ruhen, in der Hoffnung, dass er einen ähnlichen Annäherungsversuch macht wie Vince, nur dass er in dem Fall äußerst erwünscht wäre. Aber nichts passiert.
»Was schulde ich Ihnen?«
»Achso, äh ... drei Dollar und achtzig Cent.«
Er gibt mir vier. Und ich muss mich zusammenreißen, um nicht nach seinen Fingern zu fassen, als ich das Geld entgegennehme. In mir steckt offensichtlich ein Vince. Das ist furchtbar!
»Also.« Er nickt mir zu. »Vielen Dank. Es ist wirklich schön hier. Ich komme sicher mal wieder.«
Ja, bitte! Und zwar bald!
»Ich würde mich freuen.«
Er nickt mir noch einmal zu, lächelt dabei und macht sich auf den Weg hinaus. Der nächste Kunde wartet schon. Als ich meinen Blick endlich von dem Mann im weißen Hemd lösen kann und auf die Theke richte, fällt mir etwas auf. Scheiße! Ich habe ihm den falschen Kuchen eingepackt!
»Moment kurz«, bitte ich den wartenden Kunden, stürze um die Theke herum und zur Ladentür hinaus. »Warten Sie!«
Der hübsche Mann bleibt stehen und dreht sich um. In seinem Blick steht Überraschung und er fasst sich mit einer kurzen, unbewusst wirkenden Geste an den Hemdkragen. »Ja?«
Keuchend hole ich ihn ein. »Ich habe Ihnen versehentlich den falschen Kuchen eingepackt. Kirsche anstatt Blaubeer. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«
Er winkt ab und lächelt wieder. Er hat wirklich schöne Zähne, nicht solche Keramikhauer wie Vince. »Ist nicht schlimm, ich mag auch Kirschkuchen.«
»Haben Sie noch zwei Minuten?«
»Eigentlich nicht, aber weil Sie’s sind.«
Ich schlucke heftig. »Ich – ich bin gleich wieder hier.«
Im Schweinsgalopp renne ich zurück in die Bäckerei, packe hastig ein Stück Blaubeerkuchen – diesmal wirklich Blaubeerkuchen! – ein und haste wieder hinaus. Der hübsche Mann, dessen Namen ich zu gerne in Erfahrung bringen würde, wartet auf mich.
»Das geht auf’s Haus«, verkünde ich, als ich atemlos zu ihm aufschließe. »Ich würde mich freuen, wenn Sie trotz Panne mal wieder vorbeischauen.«
»Das werde ich«, verspricht er und hebt die Hand zum Gruß. »Ganz bestimmt.«