Ein Selkie im Wintersturm


Seine Gedanken schweiften ab, aus ›Dansaðu vindur‹ wurde ›Lítla, Fitta Nissa Mín‹, doch dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Nicht in weiter Ferne, sondern zwischen den Felsen ganz nah am Ufer. Er setzte das Fernglas ab und spähte hinunter. Nichts war zu sehen außer das schwärzliche Wasser mit seinem grau erscheinenden Schaum. Hatte er sich den hellen Punkt nur eingebildet? Hatte es sich womöglich nur um eine Reflexion des Mondlichtes auf einer Welle gehandelt? Erneut nahm er das Fernglas zur Hilfe und suchte das Ufer ab. Felsen. Steine. Sand. Ah, eine Robbe. Sie kroch auf die Felsen, versuchte offenbar, sich vor den tosenden Wogen zu retten.

Wäre es nicht besser, du tauchst ganz tief ab? Hier oben lebst du doch viel gefährlicher.

Kurz setzte er das Fernglas ab, trank einen Schluck Tee und sah dann wieder hinaus, zu dem Felsen mit der Robbe. Sie war noch da, aber ... irgendetwas hatte sich verändert.

Doch keine Robbe?

Angestrengt sah er durch das Fernglas, machte die Konturen der Kreatur auf dem Felsen aus.

Ein Körper. Menschlich!

»Was zum Teufel?«, murmelte Tóri.

Er rieb sich die Augen und spähte noch einmal durch das Fernglas. Tatsächlich: Dort unten, scheinbar eingeklemmt zwischen zwei Felsen, lag ein Körper. Und er bewegte sich. Zwei geisterhaft blasse Arme versuchten, sich vom schlickrigen Gestein abzudrücken. Tóri legte das Fernglas beiseite, zog sich hastig Jacke und Schuhe an und rannte die Wendeltreppe hinunter, deren metallene Stufen unter seinen schweren Stiefeln schepperten. Als er die Tür nach draußen aufriss, schlug der Sturm sie augenblicklich wieder zu.

»Verdammt!«, fluchte er und stemmte sich noch einmal dagegen. Der Wind wollte offensichtlich ein Kräftemessen mit ihm veranstalten. Aber Tóri gewann. Vorerst. Da draußen war jemand in Not und er würde gewiss niemanden zwischen den Felsen liegen und dem sicheren Tod überlassen.

Er rannte hinunter zum Ufer, auf die Gestalt zu, die sich noch immer mit rudernden Bewegungen aus ihrer Misere zu befreien versuchte.

»Bleiben Sie ruhig!«, schrie er zu ihr hinüber. »Ich komme zur Hilfe!« Doch das ohrenbetäubende Rauschen schluckte seine Worte, sodass er sie nicht einmal selbst hörte.

Eine hohe Welle kam herangerast, eine Wand aus Schwarz, und schlug über der Gestalt zusammen. Tóri schrie in den Sturm und beschleunigte sein Tempo. Erleichterung machte sich in ihm breit, als die Welle abebbte und der Mann – offensichtlich war die Person männlich – noch immer bei den Felsen lag und prustend den Kopf schüttelte. Wenige Schritte später war er bei ihm und watete in das unruhige, hüfttiefe Uferwasser.

»Ich bin hier!«, rief er noch einmal. »Ich helfe Ihnen!«

Diesmal wurde er offensichtlich gehört, denn der Mann hob den Kopf. Tóri sah das Weiß seiner Augäpfel im Mondschein leuchten. Er kletterte auf einen der Felsen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der Sturm wehte seine bereits durchnässten Haare in sein Gesicht und ließ dicke, nasse Strähnen vor seinen Augen tanzen. Er strich sie sich aus der Stirn und hielt sie fest.

Der Mann hing offenbar mit einem Fuß in einem Felsspalt fest, aber er war nicht gänzlich eingeklemmt. Wenn Tóri das Bein packte und im richtigen Winkel heraushob, konnte er ihn befreien. Etwas anderes bereitete ihm jedoch sehr viel mehr Kopfzerbrechen: Der Mann war nackt. Er trug nicht ein einziges Kleidungsstück am Leib. Was um alles in der Welt tat er hier? Wie kam an Heiligabend ein Mann an dieses Ufer, splitternackt und hilflos? Hatte irgendjemand ihn überfallen und ins Meer geworfen? War irgendwo ein Boot auf Grund gegangen? Aber jetzt blieb keine Zeit für diese Fragen. Zuerst einmal musste er ihn retten.

»Hören Sie mich?« Tóri musste schreien, um sich überhaupt selbst zu hören.

Der Fremde hob den Kopf und blickte Tóri aus weit aufgerissenen Augen an. Dann nickte er.

»Okay. Hören Sie, ich werde Ihren Fuß jetzt aus dem Felsspalt ziehen. Es ist wichtig, dass Sie sich dabei möglichst nicht bewegen, sonst verkeilen Sie sich nur noch mehr! Haben Sie das verstanden?«

Der Mann nickte wieder.

Als Tóri seinen Fuß packte, schrie der Fremde auf. Tóri zuckte zurück.

Wahrscheinlich ist der Fuß gebrochen, dachte er voller Sorge.

Er würde einen Arzt holen müssen und sicher auch die Polizei. Das bedeutete Menschen in seinem Leuchtturm. Trubel, Aufregung. Störenfriede. Warum musste dieser Kerl ausgerechnet heute Abend hier stranden, wo er eine einsame Nacht inmitten des Sturms verbringen wollte?

Beim nächsten Versuch griff er sanfter zu. Diesmal zuckte der Mann bei seiner Berührung nur leicht zusammen. Mit der anderen Hand umfasste Tóri das Wadenbein, das sich fest und muskulös anfühlte, und streckte das Bein vorsichtig nach hinten, bis die Fessel unter der engsten Stelle des Felsspaltes lag. Trotz der Tatsache, dass das Sprunggelenk durch die Verletzung wahrscheinlich angeschwollen war, war es dennoch die schmalste Stelle des Beines und damit die einzige, die eine Chance hatte, durch die Verengung zu passen. Langsam und bedächtig hob er das Bein nach oben. Der Fremde krallte seine Finger in den harten, schleimigen Felsen, gab aber keinen Laut von sich. Es fehlte nur ein winziges Bisschen, um den Fuß widerstandslos aus dem Spalt zu heben. Wahrscheinlich war es genau das Maß an Schwellung, das durch die Verletzung verursacht wurde, das es verhinderte, den Mann einfach zu befreien. Tóri fluchte leise.

»Ich muss leider ein wenig Gewalt anwenden!«, schrie er dem nackten Fremden zu. »Das Fußgelenk ist zu geschwollen, um es einfach herauszuziehen! Es wird wehtun, aber es nützt nichts. Es ist immer noch besser als sterben, nicht wahr?« Er zwang sich ein Lächeln ab. Es kostete ihn Mühe, denn er lächelte selten.

Der Mann blieb stumm und ernst. Und nickte.

»Ich zähle von drei abwärts!«, rief Tóri. »Drei ... zwei ... eins!«

So sanft wie möglich, aber mit so viel Kraft wie nötig, drückte Tóri das Fußgelenk durch den Felsspalt. Das schroffe Gestein schürfte die helle Haut auf. Der Mann ließ einen langen, jämmerlichen Schrei los, den selbst der Wind und das Rauschen des Meeres nicht übertönen konnten. Der Lohn für den Moment der Qual war die Freiheit. Mit einem erleichterten Keuchen drehte sich der Gestrandete auf den Rücken.

Tóri stieß ein euphorisches Lachen aus. Er hatte es geschafft. Er hatte den Mann befreit. Kurz erlaubte er sich einen Seitenblick auf den, den er gerettet hatte. Im Mondlicht erkannte er die Konturen eines straffen, wohlgeformten Körpers mit der breiten Brust und den sehnigen Armen eines Schwimmers. Für einen Moment fragte er sich, ob der Kerl wohl einer dieser lebensmüden Irren war, die sich selbst bei der gefährlichsten Brandung und den kältesten Temperaturen ins Meer stürzten, um sich und der Welt irgendetwas zu beweisen. Sein Blick wanderte weiter hinunter zu der sich deutlich verschmälernden Taille. Der flache Bauch hob und senkte sich unter angestrengten Atemzügen. Weiter nach unten zu sehen, gestattete sich Tóri jedoch nicht. Das Geschlechtsteil des Fremden ging ihn nichts an und könnte außerdem unangemessene Regungen in ihm wachrufen.

 

»Ich werde Sie jetzt hinauf in den Turm bringen«, verkündete er. »Da Sie wahrscheinlich nicht laufen können, werde ich Sie tragen. Machen Sie sich bitte nicht so schwer!« Er deutete ein Lächeln an. Der Fremde erwiderte es. Und nickte.

  

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