Hinter unserem Horizont

Leseprobe


Es wurde lustiger, als Ramón gedacht hatte. Die ehemaligen High-School-Freunde waren zu betrunken oder zu vergesslich, um sich daran zu erinnern, dass er hier eigentlich nur der Hausmeister war, und hielten ihn für einen weiteren von Bradys Freunden. Die Kleins sahen davon ab, ihn zu ermahnen, weil sie wahrscheinlich erkannt hatten, dass Brady ihn dabeihaben wollte.
Ramón fühlte sich geschmeichelt und gleichzeitig doch wie eine Kakerlake. Er hatte zwischen all diesen schönen, jungen, reichen und erfolgreichen Leuten nichts zu suchen. Er war Anfang dreißig und hatte gestern eine verstopfte Toilette repariert, bevor er für die Hausherrin ein neues Wandbild aufgehängt hatte. Dass er eigentlich einmal Arzt hatte werden wollen, interessierte hier niemanden – er war keiner geworden und das war alles, was für privilegierte Menschen zählte.
Brady wusste von Ramóns ursprünglichen Plänen und in seiner ebenso privilegierten Naivität sagte er manchmal, dass er diese Pläne doch noch nachholen konnte. Aber Ramón wusste es besser. In seinem Alter und mit immer noch viel zu wenig Geld war dieser Zug längst abgefahren. Er würde kein Arzt werden. Er würde Hausmeister bleiben und mit dem Geld, das er entbehren konnte, seine Familie in Mexiko unterstützen.
Ein wenig erschöpft stieg er aus dem Pool, schüttelte wie ein Hund das Wasser von seinem Körper und nahm sich ein Handtuch. Er verspürte ein schlechtes Gewissen, weil Fernanda immer noch arbeitete und die Gäste bediente, während er sich amüsierte, aber sie schien bester Laune und winkte ihm nur lachend zu. Er würde sich alsbald bei ihr revanchieren, so viel war sicher.
Auch Brady kam aus dem Wasser, nahm sich ebenfalls ein Handtuch und frottierte sich ab.
»Wolltest du nicht noch über irgendwas mit mir reden?«, fragte Ramón vorsichtig.
»Stimmt.« Bradys Lächeln wirkte plötzlich unsicher und er legte sich etwas zu betont lässig das Handtuch über die Schultern. »Komm mit.«
Ramón folgte ihm wieder zu der Bank hinter dem Gartenhäuschen. Hier waren sie ungestört. Der Duft von Jasmin lag in der sommerlichen Nachtluft. »Irgendwie machst du mir gerade Angst.«
»Angst? Nee.« Brady zwinkerte ihm zu, ließ sich auf der Bank nieder und klopfte auf den leeren Platz neben sich. »Eher hab ich Angst. Ich würde gerade gern schon wieder kneifen. Ich hab mir das schon lange vorgenommen, aber mein Abschluss war das persönliche Ultimatum, das ich an mich gestellt habe. Und den hab ich jetzt in der Tasche und fange mein eigenes Leben an und ... jetzt muss ich mal Nägel mit Köpfen machen. Setz dich doch endlich mal neben mich, Mann.«
Stirnrunzelnd tat Ramón, wie ihm geheißen. Er war völlig ahnungslos, worauf Brady hier hinauswollte. »Dann mach. Und spann mich nicht länger auf die Folter.«
Brady räusperte sich. Einmal, zweimal. »Also. Wie ich schon gesagt hatte, jetzt, wo ich den Abschluss habe, will ich mir was Eigenes aufbauen.«
»Wolltest du nicht in der Firma deines Vaters anfangen?« Es war eigenartig, feucht und fast nackt neben Brady zu sitzen, seinen angenehmen Duft einzuatmen und dabei über solche Sachen zu diskutieren.
»Ja, dort fang ich ja auch an, das meinte ich nicht. Ich meinte eher das Leben außerhalb der Arbeit. Ich werde dort nicht schlecht verdienen und kann mein eigenes Ding durchziehen. Ich habe dich so sehr vermisst.« Es schien so vollkommen zusammenhanglos, was er da redete.
»Ja, du hast mir auch gefehlt.«
»Und jetzt bin ich wieder hier.«
»Ja.« Hatte er zu viel getrunken?
»Ich habe dich wirklich vermisst. Nicht nur jetzt so, sondern die ganzen viereinhalb Jahre, die ich weg war. Darum bin ich jedes Mal in den Semesterferien nach Hause gekommen, anstatt auf Reisen zu gehen oder so. Ich wollte dich sehen. Mit dir reden, Zeit mit dir verbringen. So wie jetzt.«
Ramón schluckte trocken. Worauf lief das hier hinaus? Es war sehr verwirrend. »Das können wir ja jetzt öfter machen, wenn du wieder da bist«, erwiderte er unsicher.
»Ja. Ja, unbedingt! Aber du bist hier nicht glücklich bei meinen Eltern, oder?«
»Ach.« Ramón winkte ab. »Das sollte kein Thema sein. Ist egal.«
»Ist es nicht. Sie behandeln dich dauernd wie ein Stück Dreck und ich will mir das nicht länger mit ansehen.«
»Ich habe ein Dach über dem Kopf, einen vollen Magen und werde bezahlt. Ich bin nicht anspruchsvoll. Im Vergleich zur Arbeit auf dem Bau damals ist mein Leben hier ein Luxus.«
»Nein, nein, so darfst du nicht denken.« Brady legte ihm eine Hand auf die Schulter und ließ sie sanft an seinem Oberarm hinabgleiten, wie ein schmetterlingshaftes Streicheln.
Ramón bekam unwillkürlich eine Gänsehaut. Das Herz schlug ihm mittlerweile bis in die Kehle.
»Ich wünsch mir das hier immer«, fuhr Brady fort. »Jetzt bin ich hier und nun stellt sich die Frage: Was wird aus mir?«
»Na, du fängst bei deinem Vater an«, erklärte Ramón mit zunehmender Verwirrung. Seine Haut brannte dort, wo Brady ihn berührt hatte.
»Nein, das war jetzt scheiße von mir formuliert. Scheiße und egoistisch. Ich meinte: Was wird aus uns
»Uns?«, echote Ramón.
»Ja.« Brady rückte näher und Ramón wagte es nicht, zurückzuweichen. »Ich will, dass du Teil meines Lebens bleibst.«
»Brady ... ich war die letzten vier Jahre nicht Teil deines Lebens. Wahrscheinlich haben wir uns schon total entfremdet.« Er wusste kaum noch, wie er atmen sollte und ihm wurde schwindelig. Bradys Geruch schien mit jedem Augenblick intensiver zu werden und das nächtliche Zirpen der Grillen klang nicht mehr beruhigend, sondern schrill.
»Nein, haben wir nicht. Das ist es ja! Jedes Mal, wenn wir uns wiedersehen, knüpfen wir genau da an, wo wir aufgehört haben. Als wären wir nie getrennt gewesen! So was habe ich sonst mit niemandem, nicht mal mit meinen Eltern, und ich glaube, das ist absolut wertvoll. Fühlt es sich für dich nicht so an?«
»Doch ... doch, das tut es.«
»Siehst du.« Sanft strich ihm Brady eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Berührungen machten ihn kirre, sandten ein schmerzhaftes Kribbeln, das ihn dazu brachte, die Zehen zu kräuseln. »Ich will, dass du mit mir kommst.«
»In deine Wohnung ... Haus ... was auch immer?«
»Ja.«
Das kam trotz allem überraschend und Ramón wusste nicht so recht, was er darauf erwidern sollte. Natürlich würde er sehr viel lieber mit Brady gehen, als bei den Kleins zu bleiben, aber welchen Nutzen sollte er dort haben? »Planst du jetzt schon so ein großes Anwesen, dass du dort einen Hausmeister brauchen wirst?«
»Du sollst doch nicht als Hausmeister mitkommen.«
»Als was denn dann? Dekorationsobjekt?«
Brady lachte kehlig und räusperte sich erneut. »Okay, jetzt kommen wir zum echt schwierigen Teil, den ich tausendmal vor dem Spiegel geübt habe.«

 

< Zurück