»Deshalb empfehlen wir Ihnen, Ihre Anreise zu Ihren Verwandten vorzuziehen oder aber besser zu Hause zu bleiben.«
Mit einem kleinen Brummen wandte sich John vom Fernseher ab. Der Wetterbericht hatte einen heftigen Schneesturm für die Weihnachtsfeiertage angesagt, was in der Regel Chaos und Staus auf den Straßen und Highways bedeutete.
Ihm war das relativ egal. Er hatte dieses Weihnachten nichts vor. Seine Eltern waren in den warmen Süden geflogen, um der Kälte zu entkommen, und sonst hatte er keine Verwandten, die ihn einluden oder von denen er überhaupt eingeladen werden wollte.
Seine Einkäufe hatte er bereits erledigt, das Holz war gehackt, und nun freute er sich auf ein paar entspannte Tage bei gutem Essen und kitschigen Weihnachtsfilmen. John mochte Weihnachten, weil es für ihn in der Regel eine gemütliche, stressfreie Zeit war, die er einfach mit sich selbst verbringen konnte. Natürlich wäre es schön, irgendwann einmal noch den passenden Partner dazu zu haben – einen, der es auch gern ruhig und gemütlich hatte –, aber man konnte nicht alles haben und John hatte keine Eile damit. Es würde sich schon alles finden, wenn es so weit war. Er glaubte an das Schicksal.
Für den heutigen Weihnachtsabend hatte er sich Fingerfood und Cola besorgt; morgen gab es einen fertigen Truthahnbraten mit Beilagen für die Mikrowelle. Er war kein sonderlich begabter Koch und überließ das lieber einer Fabrik für Fertiggerichte.
Sein Kater Oreo strich ihm schnurrend um die Beine und warf ihm seinen typischen »Hast du Leckerli?«-Blick zu. John bückte sich, kraulte den schwarz-weißen Frechdachs im Nacken und ließ sich dazu erweichen, ein paar Knusperkissen aus der Schublade zu holen und sie ihm zu verfüttern. Zufrieden schnurrend machte sich Oreo über die Leckerli her. Im Sommer streifte er gern durchs Dorf, aber im Winter blieb er lieber im Haus und lag schlafend in der Nähe des Kamins.
Als John gerade besagten Kamin anheizen wollte, klingelte sein Handy. Er schaute auf das Display und sah den Namen Henrietta Cormack aufscheinen. Das war seine liebe, betagte Nachbarin, die ab und zu seine Hilfe brauchte und ihn dafür zum Dank mit Kuchen vollstopfte. Er nahm den Anruf an.
»Hallo, Mrs. Henrietta? Ist alles in Ordnung?«
»John, mein Junge!«, krakeelte sie wie immer etwas zu laut ins Telefon. »Kannst du rüberkommen und mir helfen?«
»Sicher. Was gibt’s denn zu tun?«
»Die haben doch so einen furchtbaren Schneesturm gemeldet. Meine Einfahrt ist jetzt schon recht zugeschneit und wenn dann der Sturm kommt, kann gar keiner mehr durch. Es wäre schön, wenn vorher noch mal einer ordentlich freischaufelt.«
»Erwartest du denn Besuch, Henrietta?«
»Nein, aber der Notarzt muss ja im Fall des Falles durchkommen.«
John erschrak. »Der Notarzt? Geht es dir nicht gut?«
»Doch, doch, aber ich bin über achtzig, da kann ja jederzeit etwas sein, und ich will ja nicht sterben, nur weil meine Einfahrt nicht geräumt ist ...«
John seufzte erleichtert und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ist gut, ich komme nachher vorbei und erledige es.«
»Danke, du bist ein Engel. Danach habe ich auch schön Kaffee und Kuchen für dich. Sollst ja nicht umsonst arbeiten.«
»Ist gut. Bis dann!«
John legte auf. Er hatte keine große Lust zum Schneeschippen, aber die alte Henrietta würde er nie im Stich lassen und außerdem lief ihm bei dem Gedanken an ihren köstlichen Kuchen das Wasser im Mund zusammen. Hoffentlich gab es Apple Pie mit schön viel Zimt!
Er sah sich noch den Rest der Nachrichten an, ehe er sich anzog, seine Schneeschaufel aus der Garage holte und sich auf den Weg zu seiner Nachbarin machte.
Seine Stiefel knirschten im Schnee und sein Atem bildete in der kalten Luft kleine Wölkchen. Es war ein kalter, aber noch klarer Tag. Am Horizont bäumten sich allerdings gelblich-graue Wolken auf, die von neuem Schnee kündeten, wie vom Wetterbericht angesagt. Zeit, sich um Henriettas Einfahrt zu kümmern.
☃
Endlich Weihnachten! Shawn pfiff Jingle Bells, während er seine Einkäufe in den Kofferraum lud. Die letzten Sachen, die er noch für die Feiertage brauchte: Ein paar grundsätzliche Dinge, die nie ausgehen durften, wie Toilettenpapier, und alle Zutaten für ein festliches Weihnachtsmenü.
Er würde es zelebrieren. Wie jedes Jahr. In aller Ruhe kochen, dabei Weihnachtslieder hören oder romantische Weihnachtsfilme schauen. Shawn liebte es einfach. Und irgendwann, da war er sicher, würde er seinen Anti-Grinch finden und das alles mit ihm gemeinsam machen.
Jetzt freute er sich aber erst einmal darauf, in sein festlich geschmücktes Zuhause zurückzukehren. Den Kamin zu heizen, ein paar Plätzchen zu verspeisen und dann loszulegen. So ein Truthahnbraten mit allen Beilagen brauchte viel Zeit und Liebe, und die hatte er jetzt über die Feiertage im Überfluss. Außerdem sollte es laut Wetterbericht einen schönen Schneesturm geben. Wenn das nicht das perfekte Weihnachtswetter war!
Plötzlich klingelte das Handy in seiner Manteltasche. Wer mochte das jetzt sein? Seine Schwester, die ihm noch schnell Weihnachtswünsche übermitteln wollte, bevor sie im familiären Chaos mit ihren vier Kindern versank? Sein Chef, der ihm gern auch in seiner Freizeit noch auf den Sack ging, wenn er das Telefon nicht ausschaltete?
Er zog es heraus. Nein, ganz anders: Es war Grandma Hettie, seine Nachbarin. Eine süße Oma, die die besten Kekse der Welt backte.
»Hettie! Was gibt’s?«
»Shawn, Schätzchen, kannst du kurz rüberkommen und mir helfen?«
»Liebend gern, mein Herzblatt, aber ich war gerade einkaufen. Kann also erst in einer halben Stunde da sein. Oder brauchst du was? Soll ich was mitbringen?«
»Ich brauche jemanden, der mir die Einfahrt noch mal freischaufelt, bevor der große Schneesturm kommt. Damit ich im Notfall nicht komplett eingeschneit bin.«
»Oh, ich verstehe. Klar helf ich dir. Ich fahre jetzt heim, lade meine Einkäufe aus und dann komm ich.«
»Bist ein feiner Junge. Danach hab ich auch Milch und Kekse für dich!«
»Wer kann dazu schon nein sagen? Bis nachher!«
Er legte auf, schloss den Kofferraum und stieg ins Auto. Zwar hatte er keine große Lust, Schnee zu schaufeln – wer hatte das schon? –, aber für Grandma Hettie würde er auch nachts um drei aufstehen und die Einfahrt räumen. Sie war so eine liebe, kleine Dame und ihre vor Butter triefenden Cookies waren zum Niederknien.
Als er sich auf den Rückweg in das kleine Dorf machte, in dem er lebte, sah er im Rückspiegel, wie sich große Wolkenberge auftürmten. Das war dann wohl der angekündigte Schneesturm, der sich langsam seinen Weg zu ihnen bahnte. Vor ihm schien jedoch noch die Sonne und brachte den Schnee zum Glitzern.
Da er nicht zum zigsten Mal den Wetterbericht und die Warnungen vor dem Schneesturm hören wollte, schaltete er vom Radio auf Bluetooth um und spielte Weihnachts-Oldies von seinem Handy ab, damit Frank Sinatra, Bing Crosby und Eartha Kitt ihn in die richtige Stimmung versetzten.
Shawn liebte Weihnachten wie kein anderes Fest, auch wenn er es seit dem viel zu frühen Tod seiner Eltern meistens allein verbrachte. Ab und zu hatte seine Schwester ihn eingeladen, aber da er stets das Gefühl hatte, ihr zusätzlich zu ihrer Familie eher noch zur Last zu fallen, schlug er diese Einladungen inzwischen stets aus. Sie war ihm nicht böse und er ihr auch nicht.
Außerdem war er ja doch nicht ganz allein: Minx, seine dicke, faule Glückskatze, leistete ihm Gesellschaft. Saß mit ihm auf dem Sofa, ließ sich kraulen und schaute mit ihm Weihnachtsfilme. Er hatte sie damals hier gefunden, als er auf dem alten Bauernhof eingezogen war – noch kein Jahr alt, laut maunzend und voller Flöhe und Zecken. Er hatte sie bei sich aufgenommen, sie kastrieren lassen und ihr einen Namen gegeben. Seitdem waren er und seine Katzentochter unzertrennlich.
Zu Hause angekommen, lud er rasch seine Einkäufe aus, fütterte die etwas verstimmte Minx und machte sich dann mit seiner Schneeschaufel auf den Weg zu seiner Nachbarin. Der klare Himmel graute langsam ein. Zeit, sich um Grandma Hetties Einfahrt zu kümmern.