Nordmond: Kaamos

Leseprobe


Am Ufer des Peltojärvi hielt er an. Der See war von Schnee bedeckt und unterschied sich kaum von der Umgebungslandschaft. Ein großes, weißes Feld. Und er erkannte Spuren darauf, frische Spuren, Pfoten und Schlittenkufen. Hier musste erst kürzlich jemand mit dem Hundeschlitten entlanggefahren sein. Das bedeutete, dass das Eis dick genug war und er seine Mission in Angriff nehmen konnte. Gefrorene Seen faszinierten Lauri schon immer, die großen Eisflächen und der Hauch von Nervenkitzel. Er setzte sich wieder auf seinen Motorschlitten und fuhr los. Er gab ein wenig mehr Gas als sonst. Es war eine kribbelnde Herausforderung, die ihn von innen heraus drängte. Wie ein Rausch, der über ihn hinwegfegen wollte, so wie er über die Piste. Die Sonne ließ den Schnee glitzern, die kalte Luft klärte alle Gedanken. Mitten auf dem See stoppte Lauri, um innezuhalten und den Augenblick zu genießen. Er stellte den Motor aus, atmete tief durch und blickte sich um. Das Ufer des Peltojärvi war umgeben von Fichten und kahlen Birken, die sich schwärzlich gegen den leuchtend weißen Hintergrund abzeichneten. Die harten Kontraste des nordischen Winters waren einzigartig. Zum Glück war Lauri nicht umgekehrt.

Plötzlich vernahm er ein leises Knacken. Dann noch eines. Es war direkt unter ihm, zog noch mehr Knacken und Knirschen nach sich und er begriff, was es bedeutete.

»Scheiße.«

Er schwang sich auf seinen Motorschlitten, um schnellstmöglich davonzufahren, aber genau das erwies sich als großer Fehler. Mit einem schier ohrenbetäubenden Krachen brach das Eis unter ihm und seinem Schlitten und er wurde in die tödlich kalte Tiefe gerissen. Rasend schnell durchdrang das Wasser seine Kleidung, ließ sein Herz für ein paar Takte aussetzen und seine Lunge verkrampfen. Der Sog des sinkenden Motorschlittens wollte ihn weiter in die Tiefe reißen, aber er schaffte es, sich am Rand der Eisschicht festzuhalten.

»Hilfe!«, rief er, als er es endlich wieder schaffte, nach Luft zu schnappen. Auch wenn es sinnlos war. Hier würde ihm niemand helfen.

Verzweifelt versuchte Lauri, genug Halt zu bekommen, um sich irgendwie aus dem Eisloch ziehen zu können, aber immer wieder brach ein Stück von der Kante weg und er rutschte ab. Die Kälte brannte wie Feuer auf seinen Gliedern, bereitete unerträgliche Schmerzen, während sein Herz wie wild pumpte, um ihn irgendwie am Leben zu halten.

Das war’s also. Ich sterbe hier draußen. Vor dem Wolf hatte ich Angst, aber nicht vor zu dünnem Eis. Niemand wird mich hier finden. Niemand ...

Er schluchzte auf und strampelte verzweifelt. Seine Zeit wurde knapp, ebenso wie seine Kräfte. Sein Kiefer klapperte, die Zähne schlugen heftig aufeinander.

»Ich will nicht sterben«, heulte er, als er erneut am Rand des Eislochs abrutschte. »Ich will nicht ...«

Ein Schatten fiel auf ihn, verdeckte die Sonne. Lauri vernahm Atem aus vielen Kehlen und plötzlich erschien ein strenges, bärtiges Gesicht über ihm.

»Halt still«, sagte der Mann mit einer kratzigen Stimme, als hätte er sie Jahre nicht benutzt. »Hör auf zu strampeln.« Er legte sich flach auf das Eis und streckte seine Arme nach Lauri aus. »Halt dich an mir fest, ich zieh dich raus.«

Lauri hatte kaum noch Kontrolle über seine steif gefrorenen Glieder und nie im Leben war etwas anstrengender gewesen, als die Arme vom Eisrand zu lösen, aus dem Wasser zu heben und die seines Retters zu ergreifen. Aber er schaffte es. Bei Gott, er schaffte es und dieser fremde Mann musste enorme Kräfte haben, denn er schien ihn und seine vollgesogene Kleidung mit Leichtigkeit aus dem Wasser zu ziehen. Mit dem letzten Ruck zog er Lauri halb auf sich und rollte sich mit ihm zur Seite. Noch immer schluchzte Lauri unkontrolliert, er konnte gar nicht mehr aufhören, obwohl es ihm peinlich vor diesem Fremden war. Aber er war verdammt noch mal gerade dem Tod von der Schippe gesprungen und der konnte ihn immer noch erwischen, weil er klitschnass war und die Temperatur ungefähr minus zehn Grad oder weniger betrug.

»Alles ist gut«, sagte der Fremde beruhigend und blickte auf Lauri herab, die Augen so unfassbar blau wie Schnee im Dämmerlicht. »Komm, wir müssen vom Eis runter.«

Er zerrte ihn in die Höhe und erst jetzt bemerkte Lauri, woher die anderen Geräusche kamen: Schlittenhunde. Zehn oder zwölf Stück – Lauri war gerade nicht imstande, zu zählen –, die ungeduldig darauf warteten, dass es weiterging. Lauris zitternde Beine wollten kaum einen Schritt tun, aus Angst, wieder einzubrechen, als der Mann ihn zum Schlitten führte und ihm half, sich darauf zu setzen. Er hüllte ihn grob in eine Decke ein.

»Erst müssen wir vom See runter«, erklärte er, »dann musst du diese nassen Sachen ausziehen.«

»Ausziehen?«, krächzte Lauri. »Ich werde mir den Tod holen!«

»Du wirst dir den Tod holen, wenn du dich nicht ausziehst«, belehrte ihn der Fremde streng. »Die kalten, nassen Sachen entziehen dir sonst die ganze Körperwärme. Mene!«

Die Hunde liefen los und der Schlitten zog an. Meter für Meter näherten sie sich dem Ufer und würde Lauri nicht vor Kälte unkontrolliert zittern, würde er wohl erleichtert aufatmen.

»Stop!«, rief der Mann, sobald sie wieder wirklich festen Boden unter den Kufen hatten. Er stieg ab und kauerte sich neben Lauri. »Ausziehen«, befahl er knapp.

»Aber–«

»Ausziehen, hopp hopp.« Der Kerl runzelte die Stirn, nahm Lauri die Decke weg und begann den Reißverschluss seiner Jacke zu öffnen. »Ich habe noch mehr Decken dabei, du wirst sehen, ohne die nasse Kleidung wirst du schneller warm.«

Mit steifen, bebenden Fingern und der Hilfe seines Retters schälte sich Lauri aus seinen vor Nässe klebenden Klamotten. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, sich vor einem Wildfremden zu entblößen, wenn er überleben wollte, und der Mann schien zu wissen, was er hier tat.

»Gut.« Er trocknete den schlotternden Lauri mit einer Wolldecke ab und hüllte ihn anschließend in eine Thermodecke und ein großes Fell. »Ich bringe dich jetzt in mein Haus.«

»Ist das hier in der Nähe?«, fragte Lauri leise.

»Zwölf Kilometer.«

»In welchem Ort ist das?«

»Kein Ort«, kam knapp zurück. »Es ist hier im Wildnisgebiet. Mene!«

Der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung und Lauri zog die Decken fester um sich. Am liebsten würde er sich darunter begraben, denn der Fahrtwind, der auf seine Wangen traf, war schneidend kalt. Der Hundeschlitten erreichte eine erstaunlich hohe Geschwindigkeit, sie preschten regelrecht durch die Wälder und über die freien Ebenen.

Hoffentlich bauen wir keinen Unfall. Wenn es doch nur wärmer werden würde!

Die Kälte schien einfach nicht aus Lauris Körper weichen zu wollen, auch wenn es tatsächlich minimal erträglicher war, seit er die nasse Kleidung nicht mehr am Leib trug. Vielleicht starb er ja doch noch. Vielleicht war es schon zu spät und er zu ausgekühlt.

Die Sonne neigte sich jetzt rasch dem Horizont entgegen und machte dem Nachthimmel Platz. Eine erschöpfte Müdigkeit überfiel Lauri und er hatte große Mühe, die Augen offenzuhalten, was von der beruhigenden Präsenz des Mannes hinter ihm nur noch verstärkt wurde.

»Nicht einschlafen«, mahnte der, als er es offensichtlich bemerkte, »wir sind gleich da. Bleib wach.«

»Kann nicht mehr«, flüsterte Lauri schwach.

»Doch, du kannst. In fünf Minuten sind wir da. Dann darfst du schlafen. Aber nicht hier draußen.«

»Lenk mich ab«, bat Lauri.

»In Ordnung. Sag mir, wie du heißt und woher du kommst.«

»Ich heiße Lauri und komme aus ... Jyväskylä. Und du?«

»Mein Name ist Ville. In Jyväskylä habe ich vor vielen Jahren gelebt. Das ist fast neunhundert Kilometer weit weg, was machst du hier?«

»W-wollte eine Tour ... mit dem Schlitten.«

»Hm.« Lauri hörte Villes leises Grollen selbst über den Lärm des Hundeschlittens hinweg. »Das ging ja mal schief. Wir hatten eine ungewöhnlich warme Woche, das hat die Eisdecke des Sees an manchen Stellen ziemlich ausgedünnt. Mit dem Hundeschlitten geht es gerade noch, weil der leichter ist und das Gewicht besser verteilt. Aber deine Höllenmaschine war zu schwer.«

»Wird – wird Ärger geben ... Versicherung ...«

»Tja.«

Sie erreichten eine große Lichtung und Lauri wusste, dass sie am Ziel waren. Nicht nur eine Blockhütte stand hier, es gab noch mehr Gebäude, aber sein Blick war gerade so eingefroren wie die Frontscheibe eines Autos nach einer frostigen Nacht.

»Stop!«

Ville hob ihn mitsamt den Decken hoch, als besäße er kein Gewicht, und schleppte ihn hinüber zu einem Häuschen neben dem Haupthaus. »Ich bringe dich direkt in die Sauna«, verkündete er. »Ich habe sie vor meiner Tour angeheizt, sie sollte jetzt gut warm sein.«

Lauri brachte keinen Widerspruch hervor. Die Aussicht auf die herrliche Wärme einer Sauna erschien ihm geradezu himmlisch. Siebzig Grad zeigte das Thermometer in dem kleinen, mit Holz verkleideten Raum an, als Ville ihm half, sich auf die Bank zu setzen und ihm die Decken abnahm. Er schöpfte Wasser auf die heißen Steine, die auf dem Saunaofen lagen und eine feuchte Wolke von Fichtennadelduft umgab sie beide.

»Ich leine eben die Hunde ab und gebe ihnen zu trinken«, verkündete Ville. »Du bleibst hier und wärmst dich auf. Solltest du Kreislaufprobleme bekommen, geh in den Vorraum. Ich geselle mich nachher zu dir.«

 

Lauri nickte nur stumm, weil er zu mehr nicht in der Lage war. Alle möglichen Dinge, über die er sich sonst den Kopf zerbrochen hätte, spielten plötzlich keine Rolle mehr. Dass er hier nackt in der Sauna eines Fremden saß, zum Beispiel. Dass dieser Fremde ihn einfach mitgenommen hatte. Alles, was sich Lauri gerade wünschte, waren Wärme, vielleicht eine Tasse Kaffee und etwas zu essen. Danach würde er Ville bitten, ihn in die nächste Ortschaft zu fahren oder Hilfe zu rufen. Er wollte die Gastfreundschaft seines Retters nicht überstrapazieren, aber ohne den Motorschlitten und sein Gepäck mit der gesamten Ausrüstung inklusive Handy saß er hier fest. Ville würde ihm sicher behilflich sein. Bisher war er es ja auch ...

 

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