Nordmond: Qilak


Er befand sich etwa hundert Meilen hinter der kanadischen Grenze am transkanadischen Highway und saß seit Stunden hier fest, weil ihn niemand mehr mitnahm. Und selbst der Weg bis hierher war schon ein Kampf gewesen. Langsam wurde es dunkel.

Ich will einfach nur noch nach Hause.

Das Leuchten zweier großer Scheinwerfer aus der Ferne kündigte an, dass sich ein Truck näherte. Mutlos blickte Isai ihm entgegen, streckte dennoch den Arm aus, Daumen nach oben. Zu seiner Überraschung schien der Koloss langsamer zu werden und hielt schließlich neben ihm an. Die Scheibe der Beifahrerseite wurde heruntergelassen.

»Wo willst du hin?«, fragte der Fahrer, ein bärtiger Kerl mit einem Basecap auf dem Kopf. Sein Dialekt klang nicht, als käme er von hier.

»Nach Alaska, aber ich bin froh über jeden, der mich ein Stück nordwärts mitnimmt.«

»Da hast du Glück. Ich will nach Fairbanks. Spring rein!«

Am liebsten hätte Isai ein erleichtertes Stöhnen von sich gegeben, aber er verkniff es sich, öffnete die Tür und kletterte in den Truck. Kaum, dass er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, folgte die erste Ernüchterung. MAKE AMERICA GREAT AGAIN stand in großen, weißen Lettern auf dem roten Basecap des Fahrers.

Na toll. Ein Trump-Fan. Womit hab ich das verdient? Vermutlich schmeißt er mich gleich wieder raus.

Aber das tat er nicht, sondern gab Gas und fuhr los. Am Ende war es immer noch besser, mit einem Trump-Fan mitzufahren, als nachts in der Kälte am Highway zu stehen und zu erfrieren.

Er nahm den Kerl aus dem Augenwinkel nochmals in Augenschein. Und war überrascht. Auf den ersten Blick täuschte der dunkelblonde Vollbart über seine Jugend hinweg, aber jetzt, wo Isai genauer hinsah, erkannte er, dass der Mann noch recht jung war. Dreißig, wenn überhaupt. Also nur wenige Jahre älter als er selbst. Sein Körperbau wirkte groß und stämmig, sein dickes Haar war im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden.

»Hast echt Glück«, sagte der Fahrer noch einmal, »hier kommen nicht viele vorbei.«

»Ja, hab ich gemerkt. Danke, dass du mich mitnimmst.«

»Hm. Was willst du eigentlich in Alaska?«

»Ich will zu meiner Familie.«

Jetzt war es der Kerl, der Isai von der Seite musterte. »Bist du ’n Eskimo oder so?«

»Ja.«

Die Miene des anderen wurde seltsam. »Bist du gar nicht beleidigt?«

»Worüber denn?«

»Weil ich Eskimo gesagt habe.«

Isai kratzte sich am Hinterkopf. »Wolltest du mich damit denn beleidigen?«

Am Ende hat der mich nur mitgenommen, damit er jemanden rassistisch beschimpfen kann, der nicht abhauen kann, oder was?

»Nee. Wollte nur gucken, wie du reagierst. Sind doch jetzt immer alle angepisst über alle möglichen Bezeichnungen, die früher gang und gäbe waren.«

»Weil manche ja auch ziemlich beleidigend sind. Aber Eskimo nicht.«

»Wieso nicht? Heißt es nicht, man soll lieber Inku... Inki... irgendwas sagen?«

»Inuit. Aber ich wäre nicht gerade glücklich, wenn man mich als Inuit, beziehungsweise Inuk bezeichnet.«

»Warum?«

Isai seufzte leise. Er saß noch keine fünf Minuten in diesem Truck und war schon in eine solch nervtötende Diskussion verwickelt. »Weil ich kein Inuk bin. Ich bin ein Yup’ik.«

Der Trucker runzelte die Stirn. »Ein Yuppie?«

Mann, ist der dumm.

»Yup’ik. Wir Yupiit leben traditionell im Westen Alaskas. Darum nennen wir uns manchmal auch Western Eskimo. Hauptsache, nicht Inuit. Das ist so bescheuert, als würde man alle Indian Americans als Cherokee oder so bezeichnen.«

»Ah, okay.«

Endlich hielt er seine Klappe. Erleichtert lehnte sich Isai zurück. Bis Alaska würde er wohl eher nicht freiwillig mit diesem Kerl mitfahren, sein breiter Südstaatendialekt und seine komischen Fragen nervten ihn jetzt schon. Aber für die Nacht war er erst mal von der Straße herunter, das war die Hauptsache. Umso mehr jetzt, wo es zu schneien begann. Nicht heftig, aber doch genug, dass ein kleiner Schauer Isai durchfuhr, wenn er daran dachte, dass er ohne diesen Trucker jetzt immer noch da draußen in der Kälte stehen müsste. Die traditionelle Winterkleidung seines Volkes besaß er schon lange nicht mehr, was sich spätestens jetzt rächte. Aber er hatte ja gemeint, alles besser zu wissen. Großer Fehler.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der andere schließlich, als sie sich sicher schon eine Viertelstunde angeschwiegen hatten.

»Isai. Und du?«

»Brock. Isai ist ein komischer Name, den hab ich noch nie gehört.«

»Stimmt, er ist nicht so häufig. Er kommt aus der Bibel. Eine geläufigere Form davon ist Jesse.«

»Warum haben deine Eltern dich dann nicht gleich Jesse genannt?«

Isai zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich.«

Wieder schwiegen sie und Isai starrte in die Dunkelheit. Nur die Scheinwerfer, in denen die Schneeflocken reflektierten, spendeten etwas Licht. Aber im Truck war es warm und irgendwie gemütlich, und die Countrymusik, die leise im Radio lief, war auszuhalten. Und er kam seinem Ziel näher. Seinem Dorf, seiner Familie. Manchmal wusste man Dinge erst dann zu schätzen, wenn man sie plötzlich nicht mehr im Leben hatte.

»Sag mal, wenn du ein Western Yupi-Eskimo-Dingens aus Alaska bist«, begann Brock und Isai seufzte innerlich, »was machst du dann hier unten in Kanada, an der Grenze zu den Staaten?«

Das geht dich überhaupt nichts an, dachte Isai, aber er entschied sich doch, zu antworten. Wenn man netterweise von jemandem mitgenommen wurde und mehrere Stunden mit ihm verbrachte, war es wohl nur höflich, sich auf ein Gespräch einzulassen. »Ich hab zwei Jahre in Seattle und Portland gelebt, weil ich der Meinung war, mein eintöniges Dorfleben da oben in Alaska sei nicht das, was ich für mein Leben will und so weiter. Ich wollte raus in die Welt. Aber so aufregend die ersten Wochen waren, ich konnte nie so richtig Fuß fassen. Es ist mir alles zu fremd geblieben und zuletzt hatte ich nur noch Heimweh. War eine dumme Idee, aber ich hab meine Lektion gelernt, denke ich.«

»Heimweh und ein leeres Bankkonto, sonst müsstest du jetzt nicht trampen«, schloss Brock.

Isai hob die Hände. »So sieht’s aus. Und du? Du klingst, als kämst du aus den Südstaaten, was machst du hier oben in Kanada und Alaska? Musst du deine Fracht echt von Texas oder so bis nach da oben fahren?«

»Nee. Ich stamme aus Arkansas. Ich fahre meistens zwischen Kanada und Alaska hin und her.«

»Und warum hier und nicht in Arkansas?«

Plötzlich musterte Brock ihn lange und intensiv und wäre die Fahrbahn nicht schnurgerade, hätte Isai Angst, weil er nicht auf sie achtete. Seine dunklen Augen blitzten. »Trucker in Kanada und Alaska zu sein, ist ein harter Job. Nichts für Weicheier. Und genau deshalb fragt hier keiner, wer du bist, wo du herkommst und was du in deiner Vergangenheit getan hast.«

Isai schluckte. Seine Kehle war mit einem Schlag trocken.

Vielleicht hätte ich doch nicht in diesen Truck einsteigen, sondern lieber auf den nächsten warten sollen.

»Und ... was hast du getan?«, entfuhr es ihm.

»Wie gesagt«, erwiderte Brock. »Danach fragt hier keiner.« Es klang wie eine unterschwellige Drohung und Isai würde den Teufel tun, weiter nachzuhaken.

Vielleicht ist er ein Mörder, der in mir ein leichtes Opfer sieht. Womöglich sogar mit rassistischen Motiven. Hier draußen würde mich ja keiner retten, weil hier einfach niemand ist!

Jetzt empfand Isai die Wärme im Truck nicht mehr als angenehm, sondern als erdrückend. Was sollte er tun, wenn Brock ihn angriff? Er wusste mit möglichen Angriffen von Wildtieren umzugehen, aber mit Menschen hatte er seine Schwierigkeiten. Sie waren viel unberechenbarer.

»Hast du Hunger?«, fragte Brock unvermittelt und sein Ton klang wieder völlig arglos. »In dreißig Meilen gibt es einen Truck Stop, dort kann man was essen. Ich könnte was vertragen, hab seit heute Morgen nichts mehr gehabt.«

Isai nickte. Dass er tatsächlich Hunger hatte, war nebensächlich; vielmehr sah er den Truck Stop als eine Möglichkeit, sich von Brock abzuseilen. Er würde ihm, sobald sie angehalten hatten und ausgestiegen waren, mitteilen, dass er hierbleiben würde. Dort waren noch andere Leute und Brock konnte ihn nicht zwingen, wieder mit ihm mitzufahren.

Zum Glück schien Brock nun doch keine große Lust mehr auf ein Gespräch zu verspüren, sondern drehte die Musik lauter und klopfte mit den Fingern im Takt aufs Lenkrad. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen endlich die erlösenden Lichter in Sicht. Der Truck Stop. Als sie auf dem Parkplatz einfuhren und anhielten, atmete Isai im Stillen auf.

»Da wären wir.«

 

Isai nickte und stieg aus. Vielleicht war Brock ja wirklich kein böser Mensch und hatte mit seiner Anspielung nur einen blöden Scherz machen wollen, aber Isai hatte in den letzten zwei Jahren auf die harte Tour gelernt, dass man lieber einmal zu misstrauisch als einmal zu naiv sein sollte

  

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