Nur das Universum zwischen uns

Leseprobe


Es waren die letzten paar Dollars aus seinem Geheimversteck und eigentlich wollte Elliot sie nicht antasten. Aber er musste raus aus diesem Haus. Raus aus dieser Stadt und am Abend ins Fox Observatory, auch wenn heute Samstag war und das Observatorium für alle geöffnet hatte, nicht nur für die SFAAA-Mitglieder. Sobald er in die Sterne sehen konnte, würde er sich besser fühlen.

Also nahm er das Geld und setzte sich in den nächsten Bus in die Stadt. Im Zentrum von Pembroke Pines stieg er aus und lief einfach los, planlos, nicht schnell, sondern einfach so, als wollte er flanieren und shoppen. Es tat gut, der stickigen Luft seines Zimmers zu entkommen. Und auch Moms deprimierender und Russells angsteinflößender Gegenwart. Im nächsten Leben hätte er wirklich gern eine Familie wie die Ruiz-Loughlins. Wahrscheinlich hatte es sogar Kevin Gutierrez zu Hause besser.

Nach einer Weile setzte er sich auf eine Bank, nahm sein Handy zur Hand und schrieb das erste Mal seit langem eine Nachricht an DeAndre, seinen früheren, besten Freund, der vor drei Jahren mit seiner Familie fortgezogen war. DeAndre hatte sein Interesse für die Physik geteilt und leider auch sein Schicksal als Opfer. Er hatte sich immer wieder dumme Sprüche wegen seiner Hautfarbe anhören müssen, leider sogar von Russell, und einer ihrer Lehrer hatte DeAndre in einer Gruppenarbeit grundlos schlechter benotet als die anderen. Jetzt lebte er in DC und es verging kaum ein Tag, an dem Elliot ihn nicht vermisste, denn er war der einzige Gleichaltrige gewesen, mit dem er sich gut verstanden hatte. Trotzdem hatte ihr Kontakt mit der Zeit nachgelassen. Die Entfernung war zu groß, jeder von ihnen lebte nun ein anderes Leben.

DeAndre schien nicht online zu sein, also steckte Elliot das Handy wieder ein und beobachtete für eine Weile einfach die vorbeilaufenden Menschen. Fragte sich, wie sie wohl so waren und welches Päckchen sie zu tragen hatten.

»Elliot?«

Erschrocken fuhr er zusammen und blickte auf. Vor ihm stand Sean Ruiz, lässig in Shorts und Stoffturnschuhe gekleidet, das Hemd bis fast zur Brust aufgeknöpft und die Sonnenbrille in die Haare zurückgeschoben. Elliots Herz begann augenblicklich wie verrückt zu hämmern.

Steht er wirklich hier oder drehe ich schon durch?

Wenn er es nicht besser wüsste, würde er bald glauben, dass Sean ihn verfolgte.

»Off... Officer Ruiz?«

»Ja. Entschuldigung, ich wollte dich nicht stören. Wollte nur Hallo sagen.«

»Hallo«, krächzte Elliot und wollte am liebsten im Boden versinken. Warum war er nur so albern, wenn Sean in der Nähe war?

»Was machst du denn hier?«

»Ich ... sitze nur rum.« Er räusperte sich. »Später will ich noch nach Sunrise ins Observatorium. Und ... und Sie?«

Sean ließ sich neben ihm auf der Bank nieder und lächelte. »Ich habe mir gerade eine neue Sonnenbrille gekauft.« Er tippte sich an den Kopf. »Du bist also wieder gesund?«

»Ja.«

»Das freut mich. Was hattest du denn?«

»Heftige Migräne.« Elliots Puls beschleunigte sich und er schwitzte noch mehr als ohnehin schon. Zum Glück würde das in dieser tropischen Hitze nicht allzu sehr auffallen.

»Ah. Seltsam.«

Er blinzelte. »Was, wieso?«

»Ich habe gestern kurz bei dir zu Hause vorbeigeschaut, weil ich mir Sorgen machte, weil du nicht zur Nachhilfe gekommen bist. Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Er sagte, du seist erkältet.«

Shit.

»Ja, erkältet war ich auch ein bisschen. Ich ... ich hab gesehen, dass Sie da waren.«

»Ich weiß. Ich habe dich am Fenster entdeckt.« Sean lehnte sich zurück und musterte ihn auf eine seltsame Art. »Nenn mich doch Sean.«

»Sind Sie sicher?«, entfuhr es Elliot und sein Schwindelgefühl nahm zu.

»Aber klar.« Sean reichte ihm die Hand und Elliot ergriff sie ehrfürchtig. Sie fühlte sich warm an und überraschend trocken, während seine eigene Hand wahrscheinlich tropfte. »Und du willst später noch ins Observatorium, sagst du?«

»Ja, genau.«

»Was machst du dort?«

Elliot lächelte. »Die Sterne und das Weltall beobachten.«

»Das stelle ich mir faszinierend vor, wenn man sich damit auskennt. Der Sternenhimmel ist wunderschön, aber für mich ist er ein einziges Gewimmel. Ich finde es immer ganz erstaunlich, wie man dort einen einzelnen Stern ausmachen und diesen auch noch benennen kann.«

»Komm doch heut Abend nach Sunrise«, schlug Elliot, ohne nachzudenken, vor. »Das Observatorium ist ab 18 Uhr auch für Nichtmitglieder geöffnet, wie jeden Samstag.«

»Na ja ...« Sean kratzte sich im Nacken und schien kurz zu überlegen. »Ja, warum eigentlich nicht? Ashley geht heute Abend aus und meine Frau will zu einer dieser Partys, auf denen Duftkerzen verkauft werden. Ich bin demnach frei. Ich habe wenig Ahnung von Physik und Astronomie. Es würde mich also freuen, wenn du mir die Sterne zeigst.«

Wenn ich dir die Sterne zeige.

Elliots Mund wurde trocken. »Wenn Sie das ... ich meine, wenn dich das wirklich interessiert, gern.«

»Es interessiert mich. Und etwas Bildung kann nie schaden, oder? Du hast doch gesagt, jemandem die Physik nahezubringen, mache dir große Freude.«

Warum muss dieser Mann so unglaublich perfekt sein? Und warum muss er mindestens zwanzig Jahre älter und der Vater meiner Mitschülerin sein?

»Ich würde mich sehr freuen.«

»Gut. Ich muss jetzt noch einmal nach Hause, aber wollen wir uns um 17 Uhr wieder hier treffen und gemeinsam nach Sunrise fahren?«

»Ich will keine Umstände machen ...«

»Machst du nicht. Also?«

»Okay. Sehr gern.«

»Dann bis später.« Sean klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und Elliot musste sich ein Aufheulen verkneifen, weil ein ekelhafter Schmerz unter seine Haut schoss. Genau an der Stelle hatte er einen riesigen Bluterguss.

Mit verkniffener Miene sah er Sean hinterher, wie er davonging und schließlich zwischen den anderen Fußgängern verschwand.

Ich hab ein Date.

Hysterisch lachte Elliot auf und schlug sich selbst auf den Mund. Er hatte natürlich kein Date, aber in seiner Fantasie war es eines. In seiner Fantasie war Sean nicht der verheiratete Vater einer Mitschülerin, sondern ein schwuler Mann, der sich für Astrophysik interessierte – und für ihn. Durfte er so etwas denken, sich so etwas vorstellen?

Wieso nicht? Ich hab im Leben genug Scheiße, ich kann mir wenigstens etwas Schönes zusammenfantasieren.

Vielleicht gewann er in Sean aber tatsächlich so etwas wie einen Freund. Er war anders als andere Erwachsene. Er nahm ihn ernst und begegnete ihm mit Respekt, ohne etwas von ihm zu fordern. Das tat so unheimlich gut. Und es fühlte sich gleichzeitig so fremd an.

Lange saß er noch auf seiner Bank, aber er beobachtete nicht mehr die Passanten, sondern tagträumte vor sich hin. Stellte sich vor, wie es nachher mit Sean werden würde. Wie er ihm zeigte, wie man ein Teleskop benutzte und sich am Himmel orientierte, um einen bestimmten Stern zu finden.

Nach einiger Zeit stand er auf und begann, umherzulaufen. Ein Blick auf sein Handy verriet, dass DeAndre ihm geantwortet hatte.

›Hey Elliot, mir geht’s gut! Und dir? Was machst du so?‹

›Zu Hause ist alles wie immer. Russell ist immer noch ein dummes Arschloch. Aber ich hab jetzt einen neuen Freund, wir gehen nachher ins Observatorium.‹

Er kam sich wie ein Lügner vor und trotzdem fühlte es sich wie die Wahrheit an. Er durfte Sean immerhin mit seinem Vornamen ansprechen.

›Das ist cool! Unsere Besuche dort fehlen mir echt :(‹

›Ja, mir auch. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder. Vielleicht gehen wir ja doch noch beide zum Studieren nach Colorado.‹

›Das wäre echt toll. Ich will immer noch unbedingt dort aufs College gehen.‹

Elliot lächelte und steckte das Handy weg. Solange es Menschen wie DeAndre oder Sean gab, war das Leben ja doch nicht nur scheiße. Dann konnte man es sogar mögen.

»Danke, Universum«, murmelte er, denn genau das hatte er sich heute Morgen vom Universum gewünscht: dass dieser Tag irgendwie gut wurde. Dass er ihn für die letzten Tage entschädigte, wie auch immer.

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sich der Zeitpunkt ihres Treffens näherte. Elliot freute sich und hatte gleichzeitig das Gefühl, in der nächsten Sekunde in Panik auszubrechen. Er wollte sich vor Sean nicht blamieren. Und wollte auch nicht, dass der sich langweilte. Es sollte ein schöner Abend für ihn werden, wenn er schon seine Zeit für Elliot opferte.

Um Punkt 17 Uhr erschien Sean und winkte, während er auf ihn zulief. »Wartest du schon lange?«

»Ich bin nie weggegangen«, gestand Elliot und lächelte scheu.

»Oh. Ich dachte, du hast sicher noch etwas vor. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich mich etwas mehr beeilt.«

»Ach was, ist doch kein Problem. Ich hab mich nicht gelangweilt.«

»Na schön.« Sean trug immer noch die gleichen Sachen wie vorhin und er sah verboten gut darin aus. »Mein Auto steht eine Straße weiter. Wollen wir los?«

»Gerne.«

Elliot fühlte sich wie der stolze Gewinner eines Hauptpreises, als er neben Sean die Straße hinunterlief. Einige Frauen sahen Sean hinterher, aber der würde gleich mit ihm ins Observatorium gehen, nicht mit einer von ihnen. Er verspürte einen Anflug von Eifersucht auf Seans Ehefrau und sogar auf Ashley, weil sie mit ihm zusammenwohnen und ihn jeden Tag um sich haben konnten. Sie stiegen in das Auto und fuhren los in Richtung Sunrise, einer Nachbarstadt nördlich von Pembroke Pines, die an die Everglades grenzte.

 

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