Polarlichter

Leseprobe


Am frühen Nachmittag des nächsten Tages kündete das Geräusch eines sich nähernden Autos davon, dass der Urlauber eintraf. Roman und Leevi erhoben sich von ihrem Kaffeetisch, zogen Jacken und Stiefel an und begaben sich hinaus, um den Neuankömmling zu begrüßen und ihm zu zeigen, wo er parken konnte. Heute Abend wollten sie ihn in ihr Haus zum Essen einladen und ihn ein wenig mit der Umgebung vertraut machen.

Ein roter Mietwagen kam auf ihr Grundstück gefahren und folgte Romans eifrigen Parkanweisungen. Als das Auto schließlich ordentlich vor dem Gästehaus stand, stieg der Urlauber aus. Groß. Breit. Blond. Bärtig. Himmel, er hatte eine Statur, bei der man ihn nur noch grün anpinseln musste, um ihn als unglaublichen Hulk auf die Piste zu schicken. Roman warf einen verstohlenen Seitenblick auf Leevi, nur um festzustellen, dass der den Kerl genauso belämmert anstarrte. Und ihm dabei auch noch der Mund offenstand. Roman stieß ihm unauffällig seinen Ellenbogen in die Seite, um ihn dezent darauf hinzuweisen, dass er gefälligst mit dem dümmlichen Gaffen aufhören sollte. Leevi schüttelte sich, räusperte sich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, während Hulk mit einem breiten Zahnpastalächeln auf sie zusteuerte. Roman glotzte auf die ausladende Brust, die den Jackenstoff spannte, als habe sich der Mann zwei Sofakissen daruntergestopft. Die Melodie von You can leave your hat on lief in Dauerschleife in seinem Kopf, während Leevi neben ihm die Augen wie Teleskope herausschraubte.

»Hei Leevi«, rief Hulk.

»Voi paska«, fluchte Leevi leise.

Über Romans innere Schallplatte kratzte hässlich die Nadel und ließ die Bumsbudenmusik stoppen. »Moment ... ihr kennt euch?«

Wie mechanisch drehte sich Leevis Kopf zu ihm herum. Sein Lächeln wirkte wie festgetackert. »Also ... ja«, erwiderte er gedehnt.

Hulk nickte ihnen beiden freundlich zu, breitete die Arme aus und riss Leevi an sich, der sich schlaff wie eine Puppe der Umarmung hingab.

»Bitte sag mir, dass das nur dein Cousin aus Jyväskylä ist«, raunte Roman ihm zu und hatte Mühe zu schlucken. Was zur Hölle war das hier gerade?

Endlich ließ Hulk Leevi los und nahm Roman mit einem geradezu amüsiert wirkenden Stirnrunzeln in Augenschein. Er sagte etwas auf Finnisch zu ihm, was Roman nicht verstand.

»En puhu suomea«, bemühte er seine Sprachkenntnisse. Ich spreche kein Finnisch. Verdammt nochmal, ich spreche kein Finnisch!

Hulk warf Leevi einen fragenden Blick zu und der erklärte ihm daraufhin anscheinend, was es mit Roman auf sich hatte, zumindest erwähnte er seinen Namen.

»Ah!«, machte Hulk und schien ein wenig irritiert. Er sagte noch etwas auf Finnisch, was Leevi zu einem Nicken und dann zu einem Schulterzucken veranlasste.

Die Tatsache, dass er kein Wort verstand, trieb Roman beinahe in den Wahnsinn. Doch bevor er Leevi seinen Unmut mitteilen konnte, wandte sich Hulk an ihn.

»Ich bin Juhani«, stellte er sich vor. Auf Deutsch. Mit einem Akzent, aber auf Deutsch.

Verdattert ergriff Roman seine Hand. »Ro – Roman«, stammelte er. »Roman Brandstädter. Sie kennen meinen Mann?«

»Ihren Mann?« Juhani wandte sich an Leevi und fragte ihn etwas auf Finnisch, woraufhin dieser nachdrücklich den Kopf schüttelte. »Ja, wir kennen uns. Alte Freunde

»Ach, da schau an. Leevi hat mir gar nicht erzählt, dass unser neuer Urlauber ein alter Freund von ihm ist.« Es bereitete ihm gerade eine ziemliche Mühe, sein manchmal etwas aufbrausendes Temperament – eine Sache, die er und Leevi gemeinsam hatten – unter Kontrolle zu halten. Wie konnte Leevi nur ohne Vorwarnung diesen Bilderbuchholzfäller zu ihnen einladen? Ihn so ins offene Messer laufen lassen? Wahrscheinlich hatte er es mit Absicht verschwiegen, weil er genau gewusst hatte, dass Roman das nicht gutgeheißen hätte. Das fing ja schon mal gut an! Und was sollte dieses vehemente Kopfschütteln, nachdem er Leevi als seinen Mann bezeichnet hatte?

Letzterer räusperte sich unbehaglich. »Könnten wir uns vielleicht auf Englisch als gemeinsame Sprache einigen? Dann hat jeder von uns die Chance, den anderen zu verstehen.«

Roman machte gute Miene zum bösen Spiel und legte Macarena auf seinen inneren Plattenspieler. »Dann zeigen wir Hulk, äh, Juhani doch mal seine Unterkunft, oder was denkst du, mein lieber Polarbär

»Du machst mir Angst«, murmelte Leevi und bedeutete Juhani mit einer verkrampften Geste, ihnen zu folgen.

»Du schuldest mir eine Erklärung«, zischte Roman ihm zu, als sie zum Gästehaus hinüberliefen.

»Ich hatte keine Ahnung, dass er es ist!«, beteuerte Leevi und zog unbehaglich die Schultern hoch.

»Oh, ich hatte vergessen, zu erwähnen, dass die Erklärung auch einigermaßen glaubwürdig sein sollte. Du hast doch spätestens bei der endgültigen Buchung gesehen, wer es ist!«

»Roman, der Mann heißt Juhani Virtanen! Wenn ich diesen Namen in eine Gruppe von hundert finnischen Männern rufe, drehen sich mindestens fünfzig davon um. Es hätte jeder sein können!«

»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich Hulk hinter ihnen.

»Nein, alles gut!«, versetzten Roman und Leevi wie aus einem Mund und warfen sich gegenseitig misstrauische Blicke zu. Roman öffnete die Tür zum Gästehaus und ließ die beiden Männer hinein.

»Willst du vielleicht die Hausführung übernehmen?«, bot Leevi an.

Roman nickte grimmig. »Liebend gern. Also, hier ist, wie man unschwer erkennt, der Wohnküchenbereich. Ich habe Kekse für Sie gebacken. Was tut man nicht alles für einen alten Freund seines Liebsten?« Er lachte gekünstelt.

»Das ist sehr freundlich«, erwiderte Hulk, nahm sich einen Keks und steckte ihn im Ganzen in seinen Mund.

Bevor Roman genauer darüber nachdenken konnte, was in diesen Mund sonst noch so im Ganzen hineinpassen mochte, wandte er sich hastig ab und marschierte hinüber zum Schlafzimmer. »Hier wäre dann das Bett. Hinter dem Vorhang sind Regale und Stangen für die Kleidung.« Er räusperte sich und erinnerte sich unwillkürlich an die Nächte, die er damals in diesem Schlafzimmer verbracht hatte. In denen er sich zu Anfang vor wilden Tieren und später vor der Tatsache gefürchtet hatte, dass er Hals über Kopf in Leevi verliebt war. Ohne zu ahnen, dass dieser seine Gefühle längst erwidert hatte. Was für eine Quälerei. Aber am Ende war ja alles gut geworden. Zumindest bis gerade eben, dachte Roman mit einem argwöhnischen Blick auf diesen Juhani, der sich lächelnd umsah, und dessen Lächeln sogar noch breiter wurde, als er Leevi ungeniert in Augenschein nahm.

Demonstrativ stellte sich Roman neben seinen Liebsten und legte ihm besitzergreifend einen Arm um die Taille. »Das Bad ist da drüben«, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Es hat ein gepflegtes Wasserklosett. Nicht wahr, Leevi?« Als der nicht reagierte, sondern wie ein Grenzdebiler auf den unglaublichen Hulk starrte, kniff er ihn unauffällig in den nichtvorhandenen Hüftspeck.

»Äh, ja!«, rief Leevi aus seinem tranceartigen Zustand erwacht. »Ein Klo. Mit Spülung. Ist super.«

Hulk sah sie beide an, als hätte er zwei besoffene Elche in Strickpullundern vor sich. »Na klar. Vielen Dank.«

»Dann lassen wir Sie erst einmal in Ruhe auspacken, wie? Wenn Sie Fragen haben, finden Sie uns drüben im Haupthaus. Wir sind auch per Handy erreichbar. Ich bin sicher, dass Leevi Ihnen schon seine Nummer gegeben hat.«

Hulk schien noch etwas sagen zu wollen, aber Roman zerrte Leevi mit Nachdruck aus dem Haus. Der konnte sich auf etwas gefasst machen.

 

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