Sex, Drugs & Handicaps

Leseprobe


Urplötzlich fliegt laut krachend die Tür auf. »So!«, ertönt gleichzeitig ein lauter, sonorer Bass und lässt mich einen kleinen, erschrockenen Schrei ausstoßen, der mir sehr, sehr peinlich ist.

Ein Vieh von einem Mann betritt das Zimmer. Riesengroß, die Brust breit wie eine Panzerrüstung und die tätowierten Oberarme wie zwei Keulen. Das markante Gesicht ist von einem kurzen, sehr männlich wirkenden Bart geziert und das dunkle, wahrscheinlich bis über die Schulter reichende und an den Seiten abrasierte Haar am Hinterkopf zu einem losen Manbun gewrungen. Er trägt einfache, schwarze Kleidung. Augen von einem unglaublich intensiven Gletscherblau, wie ich es noch nie vorher gesehen habe, blicken mich fragend an. Ich bekomme eine Gänsehaut. Tyr Ravenson.

Heiliger Jesus!, schießt es mir durch den Kopf. Was für ein Mann. Was für eine geballte, imposante, beneidenswerte, brachiale Männlichkeit.

»Moment mal«, grollt es tief aus seiner Kehle, während er offensichtlich irritiert auf mein hellgrün kariertes Hemd starrt, »ich glaube, du hast dich in der Tür geirrt, Kleiner. Die lustige Hitparade ist nebenan.«

»Sie sind doch Tyr Ravenson, oder?«, frage ich dümmlich. Natürlich ist es Tyr Ravenson, der Mann ist unverkennbar ... und ich muss sagen, seine Fotos werden ihm nicht gerecht. Live sieht er noch sehr viel besser aus.

»Der bin ich«, gibt er zurück und fischt eine Zigarettenschachtel aus seiner Hosentasche.

»Dann bin ich hier richtig.«

Er zieht eine seiner dunklen Augenbrauen in die Stirn und zündet sich eine Kippe an. »Das glaube ich kaum. Was willst du hier?«

»Wir hatten doch ein Interview vereinbart«, erkläre ich, »für den Music is my Oxygen Blog.«

»Was?« Er nimmt einen Zug an seinem Glimmstängel und mustert mich skeptisch. »Mir wurde eine Gwen irgendwas angekündigt. Gwen ... Cummings oder so ähnlich. Bist du Gwen Cummings? Falls ja, dann bist du das hässlichste Frauenzimmer, das mir je begegnet ist.«

»Gwen lässt sich entschuldigen«, erkläre ich steif. »Sie ist krank.«

Endlich tritt Ravenson über die Schwelle, schließt allerdings zu meinem Entsetzen die Tür hinter sich. Jetzt hat der Qualm keine Chance mehr abzuziehen und ich werde vermutlich den Erstickungstod sterben, bevor das Interview überhaupt zu Ende ist.

»Und dann schickt sie irgendwen?«, fragt er mit der Kippe im Mundwinkel und starrt noch immer fasziniert auf mein grünes Hemd.

»Was heißt hier irgendwen?«, versetze ich leicht angesäuert. »Gwen führt den Blog ja nicht allein.«

»Und du bist der andere Blogger oder was?« Neugierig lässt Ravenson sich in einem Sessel nieder.

»Genau der bin ich«, erkläre ich noch immer verschnupft.

»Also heißt das, Leute wie du«, er macht eine unbestimmte Geste, die wohl auf mein Erscheinungsbild abzielen soll, »Leute wie du hören unsere Musik? Scheiße, das ist ja wie ein Schlag in die Fresse.«

»Sie kennen mich doch gar nicht!«, protestiere ich. Ich bin entsetzt. Was ist der Typ denn bitte für ein Arschloch?

»Mir reicht, was ich sehe.« Kopfschüttelnd kippt er Zigarettenasche ab und steht auf. »Na dann stell deine Fragen, Kleiner, während ich mich fertig fürs Konzert mache.«

Aha, ich werde also nebenbei abgefertigt.

»Sie haben ganz schön viele Vorurteile für jemanden, der selbst so sehr mit dem Anderssein kokettiert«, merke ich an.

»Der was macht? Drück dich wie ein normaler Mensch aus, Mann.« Er legt seine noch qualmende Zigarette an den Rand des Aschenbechers und zieht sein T-Shirt aus. Mir stockt der Atem. Ehrfürchtig starre ich auf die zuckenden, mit wilden Motiven und kunstvollen Tribalmustern tätowierten Brustmuskeln, die er so nonchalant vor mir entblößt. Beide Brustwarzen sind gepierct. Die Tätowierungen ziehen sich an seiner schmaler werdenden Seite entlang und flankieren die wohldefinierten, aber nicht übertrainierten Muskelstränge auf seinem Bauch. Mir fällt dazu nur ein Wort ein: beeindruckend. Aber dann macht er wieder den Mund auf.

»Hast du auch noch ein paar richtige Fragen oder nur diesen Schwachsinn hier? Ich habe nämlich eigentlich gar keine Zeit für so was. Ich habe nur zugesagt, weil ich eine Tussi mit einem pornomäßigen Nachnamen erwartet habe. Cummings.« Er grinst dämlich in sich hinein. »Ich dachte, vielleicht ist der Name Programm und ich kann vor dem Konzert noch einen wegstecken.«

Mein Gott, ist dieser Kerl primitiv. »Cummings ist ein ganz normaler Name und hat nichts mit – «

»Ja, ja. Geht mir am Arsch vorbei.«

Wie auf das Stichwort hin zieht er seine Hose aus. Hörbar schnappe ich nach Luft, denn er trägt nichts darunter.

»Was ist los mit dir?«, fragt er und runzelt wieder die Stirn über den gletscherblauen Augen.

»Sie sind nackt«, entgegne ich tonlos.

Er sieht an sich herunter und zuckt mit den Schultern. »Sag mir etwas, was ich nicht schon weiß.«

Gibt es irgendeine Stelle an Tyr Ravenson, die nicht gepierct oder tätowiert ist? Selbst an seiner intimsten Stelle hängt ein Ring! Das muss doch höllisch weh tun, sich da so ein Teil durchstechen zu lassen!

»Hey Kleiner, ich weiß, dass meine Ausstattung neidisch macht, aber könntest du jetzt mal aufhören, mir auf die Nudel zu starren und endlich deine Scheißfragen stellen? Wie heißt du eigentlich?«

Ich räuspere mich und rufe mich innerlich zur Ordnung. »Mein Name ist Rhys Prytherch.«

»Was?!«

»Rhys Pry-therch«, wiederhole ich noch einmal ganz langsam.

»Was?«, fragt er wieder. »Das soll ein Name sein? Alter, um den auszusprechen brauche ich noch mindestens fünf Bier. Dein Name klingt ungefähr so, wie wenn ich diese fünf Bier wieder auskotze.«

»Es ist ein walisischer Name«, erkläre ich beleidigt. »Vielleicht nicht so leicht auszusprechen für alle, die des Walisischen nicht mächtig sind, aber – «

»Was auch immer«, unterbricht er mich. »Also, hast du jetzt Fragen oder nicht?«

»Klar. Also ...« Ich komme wieder ins Stocken, als Ravenson seinen Haargummi löst, den Kopf nach unten beugt und seine prachtvolle Mähne ausschüttelt als wolle er headbangen. »Also ...«, setze ich nochmals an, »was sagen Sie zu den Vorwürfen aus der Szene, Sie würden sich zu sehr mit dem Mainstream anbiedern?«

»Ich scheiß’ drauf.« Er nimmt eine Bürste zur Hand und fährt sich durch das lange, dunkle Haar.

Ich warte darauf, dass er noch mehr dazu sagt, aber es kommt nichts, deshalb fahre ich einfach fort. »Sind Sie überrascht von Ihrem kommerziellen Erfolg?«

»Nein.« Er nimmt eine dünne Strähne seines Haars und beginnt, einen kleinen Zopf hineinzuflechten.

»Und weiter?«

Er blickt auf. »Was weiter? Ich sagte doch schon nein

»Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?«

»Ja, was soll ich denn sonst noch dazu sagen? Nein, es überrascht mich nicht. Fertig, aus, Ende.«

»Und warum überrascht es Sie nicht?«

»Weil wir verdammt gut sind.«

»Aha.«

Er hält in seinen Flechtbewegungen inne. »Aha? Bist du anderer Meinung, Kleiner? Sind wir nicht gut in deinen Augen?«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie sind schon gut. Aber bislang war Ihr Genre ja im Mainstream nicht so populär.«

»Sie sind schon gut«, äfft er mich nach. »Ehrlich gesagt glaube ich ja nicht, dass du unsere Musik hörst.«

»Dann glauben Sie es eben nicht. Gibt es schon Pläne für ein neues Studioalbum nach der Europatournee?«

»Ja.«

Er nimmt eine zweite Strähne zur Hand und flicht auch diese zu einem Zopf. Seine Einsilbigkeit macht mich langsam sauer. So bekomme ich kein verwertbares Interview zusammen. Stattdessen notiere ich einfach, was er so nebenbei macht.

»Willst du ein Bier?«, fragt er mich, während er splitterfasernackt zu einem kleinen Kühlschrank spaziert und sich eine Dose herausnimmt.

»Nein danke.«

Er dreht sich um und wirft mir einen nicht zu deutenden Blick zu. »Vielleicht einen Kräutertee?«

Ich bin überrascht. »Ja«, antworte ich, »sehr gern.«

Ravensons Augen weiten sich vor Unglauben, als er grinsend den Kopf schüttelt. »Das war ein Scherz! Ich hab doch hier keinen Kräutertee! So langsam verstehe ich die Vorwürfe aus der Szene. Wenn so Öko-Apostel unsere Musik hören, ist echt was schiefgelaufen.«

Er trinkt die Dose Bier auf Ex, klopft sich auf die Brust und rülpst, dass die Wände wackeln. Mein Bild von Tyr Ravenson, dem vollendeten Bad Boy mit der grandiosen Stimme und den kraftvollen Liedern, zerfällt gerade nach und nach in winzig kleine Stücke. Das soll also ein richtiger Mann sein? Ein selbstverliebter, nach Schweiß stinkender Steinzeitmensch ohne jeglichen Anstand? Irgendwie habe ich etwas anderes erwartet. Vielleicht keinen sanften Riesen, aber einen durchaus gebildeten, eben etwas raubeinigen Mann. Was ich hier stattdessen sehe, sieht zwar sehr ansprechend aus, aber der Rest – mir fällt dazu gar nichts ein.

Ich mache mir Notizen. Meine ganzen Fragen erscheinen mir plötzlich leer und sinnlos, ich habe vielmehr das Bedürfnis, niederzuschreiben, was ich hier gerade erlebe.

»Was schreibst du da eigentlich die ganze Zeit auf?«, fragt Ravenson misstrauisch und kommt mit wenigen großen Schritten zu mir herüber.

»Unser Interview«, antworte ich ausweichend und bedecke den Zettel mit meiner Hand, als er sich mit seiner wieder aufgenommenen Kippe im Mundwinkel über mich beugt. Sein gepiercter Schwanz befindet sich auf einer Höhe mit meinem Gesicht und ich weiche immer weiter in die Sofalehne zurück.

»Du schreibst viel mehr auf als ich überhaupt sage!«, stellt er mit einem Stirnrunzeln fest und versucht, mir den Notizblock zu entwinden.

»Ich mache nur Randnotizen!« Ich weiche ihm immer weiter aus und falle fast über die Sofalehne. »Würden Sie bitte Ihren Penis aus meinem Gesicht nehmen, Mr. Ravenson?«

»Was?« Er glotzt auf seine Männlichkeit hinab, als habe er bis gerade eben gar nicht gewusst, dass er eine hat. »O Mann, was hast du eigentlich für ein Problem mit meinem Schwanz? Ist deiner so klein oder was?«

»Mein Penis ist normal groß«, antworte ich säuerlich, während Ravenson sich endlich in eine enge, schwarze Hose hineinzwängt.

Verstohlen atme ich auf. Tyr Ravensons Geschlechtsteil vor der Nase baumeln zu haben war ja wohl die peinlichste und unangenehmste Situation, in der ich je gewesen bin. Er hat nicht ganz unrecht, seine körperliche Ausstattung ist wirklich beneidenswert, dafür wurde anscheinend an seiner geistigen Ausstattung gespart, oder er hat sich einfach schon zu viele Hirnzellen weggesoffen.

 

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