»Hi«, grüße ich und die fünf anderen Personen im Bus grüßen zurück. Ich setze mich neben eine Frau Mitte fünfzig und eine weitere Frau, die vermutlich ihre Tochter ist, denn sie sieht aus wie ein jüngerer Abklatsch der ersten. Beide tragen ungünstig geschnittene, tarngrüne Cargoshorts, die ihnen bis zur Hälfte der Wade reichen und stoppelig rasierte Haut präsentieren, im Falle der Jüngeren zu allem Übel auch noch mit einem unscharf tätowierten Schriftzug versehen.
»Hellooo!«, begrüßt mich die Ältere mit einem breiten Grinsen. »My näim is Birgit änd sis is my daughter Daniela.« Sie stupst die Tochter unsanft mit dem Ellenbogen an, um deren Aufmerksamkeit zu erregen.
Aha. Deutsche. Ich nicke ihnen freundlich zu und Daniela schenkt mir ein kaugummikauendes Grinsen. »Ich bin Adrien«, füge ich der Vollständigkeit halber an. Man will ja nicht unhöflich sein.
Birgit nickt eifrig und flüstert ihrer Tochter etwas zu, woraufhin diese aufgeregt kichert. Peinlich berührt wende ich meinen Blick lieber nach vorn auf die drei schwarzhaarigen Köpfe einer japanischen Familie: Mutter, Vater, Tochter. Immerhin tragen auch die Regenjacken und ich komme mir nicht mehr ganz so bescheuert vor.
Offenbar sind wir nun vollzählig, denn die Grottenolm-Frau setzt sich hinter das Steuer, lässt den Motor an und fährt los. Als wir das Flughafengelände verlassen, schaltet sie einen kleinen Lautsprecher an und macht eine Durchsage: »Ich begrüße Sie alle herzlich hier in Schottland. Ich bin Susan und hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. Ich werde Sie jetzt zu Ihrer Unterkunft in Arrochar bringen. Das ist ungefähr eine Stunde Fahrtweg. Genießen Sie den schönen Ausblick in die Landschaft der Grenze zwischen den Lowlands und den Highlands bei diesem traumhaften Wetter. An Ihrer Unterkunft wird Sie dann mein Großcousin Lachlan begrüßen, der die weitere Reiseleitung übernimmt.« Sie dreht das Radio auf und es spielt erfreulich klischeehafte Dudelsackmusik, die uns allen wohl helfen soll, uns noch besser auf den bevorstehenden Urlaub einzustimmen.
Wie könnte ich bloß am besten die eine oder andere Schicht meiner Kleidung loswerden, ohne allzu sehr mit Birgit und Anhang auf Tuchfühlung zu gehen? Das ist äußerst schwierig, denn die beleibte Dame sitzt praktisch auf meinem Schoß. Wie ein Entfesselungskünstler, eingeklemmt zwischen Gurt und Sitznachbarin, schaffe ich es zumindest, mich von meiner Daunenweste zu befreien, aber für den Sweater, den ich mir über den Kopf ziehen müsste, sehe ich schwarz und behalte ihn lieber an.
»Ganz schön warm, he? Wärri warm?«, fragt Birgit in ihrem gebrochenen Englisch.
»Hm«, gebe ich zurück und versuche, eine bequeme Stellung zu finden, was nicht ganz einfach ist, da meine Knie die ganze Zeit am Vordersitz scheuern. »Nicht das, was ich erwartet hätte.«
»Daniela und ich sind schon das zweite Mal in Schottland!«, schreit Birgit mir unnötig laut ins Ohr und fügt noch unnötiger hinzu: »Daniela ist siebenundzwanzig! Twänti-sewen!«
Ich nicke und tue so, als habe ich kein Wort verstanden und als hätten mich auch keine kleinen Spuckesprenkel an der Wange getroffen. Aber als ich mich zum Fenster drehen möchte, um ein wenig die vorbeiziehende Stadt zu betrachten, stupst Birgit mich an der Schulter an.
»Änd you?«
»Einunddreißig«, gebe ich zur Auskunft, obwohl das die Frau eigentlich gar nichts angeht. Abermals rempelt sie ihre schon beinahe eingeschlafene Tochter an und nickt ihr verschwörerisch zu.
Jesus Christ, ich sitze noch keine zehn Minuten im Bus und schon will mich offensichtlich jemand verkuppeln. Das ist ja wie zu Hause. Dort versucht auch ständig jemand, mich an den Mann, oder besser gesagt an die Frau zu bringen. Als ich mich vor über sechs Jahren geoutet habe, waren dem ein paar bestürzte Blicke und das eine oder andere »Bist du sicher?« gefolgt, nur um dann alle Bemühungen, die passende Frau für mich zu finden, noch weiter zu verstärken.
»Das ist sicher nur eine Phase«, hatte meine Mutter angemerkt. »Wenn du erst die Richtige triffst, dann ist die ganz schnell wieder vorbei.« Mein Vater hatte derbere Worte gefunden: »Junge, dich muss nur mal eine so richtig rannehmen, dann vergisst du den Quatsch mit den Männern ganz schnell wieder!«
Gefolgt waren endlose, demütigende Verkupplungsversuche und am Ende bot mein Vater mir sogar an, einen Bordellbesuch zu bezahlen, nur um mir den Sex mit Frauen doch noch schmackhaft zu machen. Ich habe dieses Angebot selbstverständlich ausgeschlagen. Seither ist das Maß für mich vorerst voll und ich habe den Kontakt zu meinen Eltern eingeschränkt und besuche sie meist nur noch an den Geburtstagen, Thanksgiving und Weihnachten. Wo sie nach wie vor nicht müde werden, mich zu fragen, ob ich denn endlich mal das Schwulsein aufgegeben habe.
Hier in Westeuropa, wurde mir gesagt, sollen die Menschen weitaus offener und toleranter sein als in vielen Ecken des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber gerade deshalb steht mir noch weniger der Sinn nach Verkupplungsaktionen einer wildfremden Frau mit ihrer gelangweilten, übriggebliebenen Tochter. Demonstrativ wende ich meinen Blick von meiner Sitznachbarin ab und hinaus zum Fenster, wo sich beim Verlassen des Stadtgebiets schon die ersten hügelig-sanften Ausläufer der Natur zeigen. Ich bin müde. Ich bin seit gestern Mittag ununterbrochen wach und habe auf dem Flug von Houston nach London keinen Schlaf gefunden. Der fordert jetzt umso heftiger seinen Tribut, und das Brummen des Motors, das leichte Schaukeln des Busses und die leise Dudelsackmusik tun ihr Übriges dazu.
Ich wache erst wieder auf, als der Bus anhält, um eine kleine Rast zu machen.
»Wir sehen hier die ersten Ausläufer des Loch Lomond«, erklärt Susan. »Wenn Sie wollen, können Sie kurz aussteigen und ein Foto machen.«
Das lässt sich die japanische Familie nicht zweimal sagen und springt aus dem Auto wie aus Schleudersitzen. Auch ich habe das Bedürfnis, mir kurz die Beine und die mittlerweile wundgescheuerten Knie zu vertreten und steige dankbar aus. Mein linker Oberschenkel, der permanent in engem Kontakt mit Birgit gestanden hat, fühlt sich verschwitzt an und ich zupfe verstohlen an dem klammen Jeansstoff. Ich kann es kaum erwarten, zu duschen und mich umzuziehen. Was auch immer von meinen dicken Sachen ich anziehen soll.
Der Ausblick ist in der Tat wundervoll. Die von bewaldeten Hügeln und im Hintergrund von schroffen Felsformationen umgebenen Wellen schimmern in der Nachmittagssonne und lassen die am Ufer vertäuten Boote sanft schaukeln. Ich halte die Nase in die Sonne, atme die Luft ein – und rieche Gras. Gras zum Rauchen. Irritiert blinzle ich über die kleine Mauer, die die Uferböschung von der Straße abgrenzt, und erblicke eine Gruppe von vier Jugendlichen, die gemütlich auf einer Picknickdecke sitzen und in aller Seelenruhe einen Joint rauchen. Schottland verspricht ja wirklich interessant zu werden. Grinsend schieße ich ein Foto mit meinem iPhone, dessen Wetter-App immer noch steif und fest behauptet, es würde regnen, und will gerade zurück in den Bus steigen, als Birgit mir in den Weg tritt:
»Willst du in der Mitte sitzen? Do you want tu sit in se middel?«
»Nein, danke«, wehre ich ab. No, sänks. Aber diesmal tut Birgit so, als habe sie mich nicht verstanden und schiebt mich mit Nachdruck in den Bus, so dass ich beinahe mit dem Gesicht in Danielas Schoß lande. Eingekeilt zwischen den zwei urinblonden Damen gibt es kein Entrinnen mehr. Birgit drängt mich mit ihrem cargobehosten Becken subtil gegen ihre rotbackige Tochter, die mir erneut ihr kaugummikauendes Grinsen zuwirft. Ich schreie innerlich auf und stelle mir vor, wie auf der Fahrt einfach die Bustüren auffliegen und Birgit und Daniela links und rechts hinauspurzeln. »Wie weit ist es noch?«, rufe ich verzweifelt nach vorn zu Susan. Hoffentlich nicht noch gefühlte tausend Kilometer, ich sterbe hier.
»Sind gleich da«, erwidert sie zu meiner Erleichterung. »Wir sind praktisch schon im Ort.«
Tatsächlich hat sie nicht gelogen und nur wenige Minuten später erreichen wir unser Ziel: das Lakeside B&B, ein Bed & Breakfast mit angeschlossenem Pub direkt am See, das uns für die kommenden zwei Nächte eine Unterkunft bieten soll. Sweet Jesus, bitte mach, dass man mir kein Zimmer direkt neben Birgit und Daniela zuteilt, denn das wäre mein sicherer Untergang. Wir steigen aus und Susan begleitet uns bis zur Rezeption, wo alle einchecken dürfen.
»Welche Zimmernummer hast du?«, will Birgit prompt wissen und klappert mit dem Schlüsselbund, den sie direkt an ihren Brustbeutel gehängt hat. »Which room number häff ju?«
Mit Entsetzen blicke ich auf die große Neun, die auf dem Schildchen an Birgits Schlüsselbund prangt. Ich schlucke. »Acht«, krächze ich leise.
»Wondervoll!«, kreischt sie. »Wir sind Nachbarn! We are näibörs!«
Ich habe das spontane Bedürfnis, in Tränen auszubrechen und mich in den See zu stürzen, in der Hoffnung, von einem Monster gefressen zu werden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich stattdessen von Birgit und Tochter gefressen werde, ist ungleich höher.
»Ich bin entzückt«, presse ich zwischen den Zähnen hervor und will mich klammheimlich davonstehlen, aber Birgit kennt keine Gnade, schlingt einen Arm um meine Taille und zieht mich mit sich. Wir verlassen alle gemeinsam die Rezeption, ich stolpernd wie ein Besoffener, und gehen draußen eine Treppe hinunter, die am B&B vorbei hinunter zu den Terrassen führt. Ein wunderbarer Blick auf den See bietet sich hier, dazu einladend, Platz auf einem der Stühle zu nehmen und die Natur zu genießen.
Und dort steht er, wie aus einem Reiseprospekt entsprungen, in einem rotgrün karierten Kilt, die strammen Waden in Strümpfen, der sichtlich trainierte Oberkörper in schwarzer Weste und Jacke und das kastanienfarbene Haar und der gepflegte Vollbart schimmernd in der Nachmittagssonne: der Highlander. Na ja, oder zumindest so etwas ähnliches.