Absinth mit dem Teufel: Kinder der Kälte


Lene begann, Frau Solberg Standardfragen zu stellen, und Jon Askils Gedanken drifteten ab. Das hier war in keiner Weise befriedigend. Er musste die Dinge wohl selbst in die Hand nehmen.

»Ich gehe kurz zur Toilette«, raunte er Lene zu, wartete ihr Nicken ab, nahm seinen Rucksack und verließ das Büro. Zeit, sich in seinem alten Zuhause umzusehen.

Tatsächlich hatte sich auch innen einiges geändert; die Wände waren in hellen, freundlichen Farben gestrichen und gemalte Bilder hingen daran. Und es war relativ warm. An der Heizung sparte man offenbar nicht mehr so sehr wie früher. Aber die gespenstische Stille jagte Jon Askil eine Gänsehaut über den Rücken. Etwas stimmte hier nicht, ein böser Geist hing in der Luft, er spürte es mit jeder Faser seines Seins.

Aus einem Gefühl heraus holte er seine Kamera aus dem Rucksack und machte verschiedene Fotos vom Gang. Was auch immer er hier vorfand, er wollte es dokumentieren. Und wenn es nur für sich selbst war.

Ein leises Wimmern drang an seine Ohren. Kaum wahrnehmbar, es fraß sich sofort in seinen Kopf und er folgte dem Geräusch, bis er zu einer Tür gelangte. Jener Tür, die seinerzeit hinunter zum Waschhaus geführt hatte. Er konnte es förmlich riechen, als er in diesem totenstillen Gang die Hand auf den Türdrücker legte, Feuchtigkeit, Kernseife und ein Anflug von Schimmel. Ein Ort der grässlichen Erinnerungen. Er öffnete die Tür. Das Wimmern wurde lauter. Dort unten war jemand. Ein Kind.

Schritt für Schritt schlich Jon Askil die Treppe hinunter, die Knie weich, der Atem angehalten. Das Waschhaus war nicht wie früher. Nicht moderig und dunkel, sondern hell gefliest, mit kindgerechten Toiletten und Waschbecken.

Vor einem dieser Becken stand die Quelle des Wimmerns und wusch etwas aus. Ein Stück Stoff. Wrang es, schrubbte es, tauchte es wieder unter. 

So musste es sein. Alle Spuren entfernen. 

»Du bist zu alt für so etwas, Jon Askil«, sagte er vor sich hin und spürte, wie etwas Kaltes, Ekelhaftes nach ihm griff. »Ein großer Junge pinkelt nicht ins Bett.« Er tunkte das Laken ein. Schrubbte es. Wrang es. »Wenn dir das noch einmal passiert, Jon Askil«, sprach er, und seine Stimme schien den Klang derer von Schwester Inger anzunehmen, »dann schneide ich dir deinen kleinen pikk ab.«

»Was?« Das Kind drehte sich zu ihm um, die Augen groß und furchtsam. Der kleine Jon Askil.

»Schlägt sie dich mit deiner vollgepinkelten Unterhose?«, fragte er das Kind. Und spürte, wie er schwankte.

Die Kamera. Nimm die Kamera, mach ein Foto.

Es fiel schwer, in der Gegenwart zu bleiben. So schwer wie lange nicht. Sein Geist versuchte mit aller Gewalt, seinem Körper zu entkommen, zu dissoziieren, aber er hielt ihn fest. Seine Hand tastete nach der Kamera, die noch von vorhin an einem Band um seinen Hals hing, und hob sie vor sein Gesicht, um den kleinen Jungen, den kleinen Jon Askil, zu fotografieren. Um zu sehen, ob er überhaupt echt war oder ob er ihn halluzinierte.

»Wer sind Sie und was um alles in der Welt treiben Sie hier unten?« Die Stimme trieb sich in seinen Kopf, als schlüge jemand einen Eispickel in seine Stirn.

Er drehte sich um. Und dort stand sie, diese scheußliche, alte Vettel, dürr, runzlig, eingefallen, aber in den Augen ungebrochen die kalte Boshaftigkeit von damals.

»Schwester Inger.« Sein Geist brach seine Fluchtversuche ab und ließ sich sicher in seinem Körper nieder. Die Gegenwart war interessanter als die Erinnerungen. »So sieht man sich wieder.«

Sie zog ihre kaum sichtbaren Brauen zusammen, kam die letzten Treppenstufen hinunter und stellte sich zwischen ihn und das Kind. »Kennen wir uns?«

»Aber ja doch.« Jon Askil verschränkte die Hände hinter dem Rücken, legte den Kopf in den Nacken und lächelte. »Ich habe ein paar der schrecklichsten Jahre meiner Kindheit hier verbracht. Unter deiner ... Obhut.«

»Ich arbeite hier seit über fünfundvierzig Jahren. Es sind viele Kinder unter meiner Obhut erwachsen geworden.«

»Und, hast du sie alle mit ihren vollgepinkelten Bettlaken und Unterhosen geschlagen? Sie ihre eigene Kotze essen lassen, wenn das hineingezwungene Essen ihnen wieder hochkam? Ihnen gedroht, ihnen den Penis abzuschneiden, wenn sie noch einmal einpinkeln?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Und warum steht dieses Kind dann weinend hier am Waschbecken?«, schrie er sie an und zeigte auf den Jungen, der sich erschrocken zusammenkauerte. »Wäscht er nicht gerade seine vollgepissten Hosen aus, weil du ihn sonst prügelst?«

Sie starrte ihn an, ihr Blick bohrte sich in ihn, aber er hielt ihm stand. »Jon Askil Fjællgren?«

»Rowbotham jetzt«, gab er zur Antwort, »aber ja. Ich sagte doch, du wirst dich ganz bestimmt an mich erinnern.«

»Wie könnte man die Ausgeburt des Teufels vergessen?«

»Oh, die bist du selbst, du widerliche, alte Kröte. Dass du noch immer hier bist und Kinder misshandeln darfst, macht mich fassungslos. Aber ich werde dafür sorgen, dass du dafür büßen wirst. Was hast du mit der Entführung von Liv-Grete zu tun?«

»Nichts«, spie sie ihm entgegen. »Genauso wenig, wie ich Schuld an deinem verkommenen Leben trage. Das hast du selbst zu verantworten. O ja, ich weiß, was du tust: satanische Bücher schreiben, dich einem sündhaften Lebenswandel hingeben. Ich bin nicht einmal überrascht, du warst schon immer ein störrisches, rebellisches Kind. Ein Gefäß des Zorns, gemacht zum Verderben.«

»Und doch stehe ich hier. Und lebe.« Der blanke Hass presste sein Inneres schmerzhaft zusammen. Er kam zu der erschreckenden Erkenntnis, dass er sie mehr hasste als Sandvik und Bengtson zusammen. Bei Sandvik hatte es neben der Peitsche wenigstens das Zuckerbrot gegeben. Bei Schwester Inger nicht.

»Was jammerst du dann so herum? Hm? Bist ja sogar reich mit deinem Teufelszeug geworden, hörte ich. Aber dass der Widersacher gern mit dem Mammon ködert, wissen wir ja. Merkst du jetzt, dass es ein Fehler war, sich auf ihn einzulassen?« Ein boshaftes Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. Sie provozierte ihn ganz bewusst. »Du hast ja schon immer gern die Schuld bei anderen gesucht. Der einzige Fehler, den ich bei dir gemacht habe, war, deinen Willen nicht ausreichend zu brechen.«

»Das wirst du auch nie schaffen, du elendes Miststück!« Rasend vor Zorn packte er eine kleine Kinderfußbank aus Plastik und schleuderte sie in ihre Richtung, aber sie schaffte es, ihr auszuweichen. »Und wenn ich dir selbst deinen alten, faltigen Hals–«

»Jon Askil, hör auf!«

Jemand packte ihn von hinten an der Schulter, es war Lene, er erkannte ihre Stimme. Aber er war immer noch außer sich.

»Nein!«, brüllte er. »Nein! Ich werde nicht aufhören, solange diese alte Hexe weiterhin Kinder quälen darf! Vor allem psychisch kranke, traumatisierte Kinder, die es so schon schwer haben und sich nicht wehren können!«

»Du kannst es nicht beweisen«, raunte ihm Lene warnend ins Ohr.

»Ach nein? Und wieso steht dieser kleine Junge dort schluchzend am Waschbecken und wäscht etwas aus, genau wie ich damals mit meinen vollgepinkelten Laken und Unterhosen? Frag ihn! Frag ihn, was er da auswaschen muss!«

Lene schob sich vor ihn und wandte sich an das Kind. »Magst du mir verraten, was du da wäschst?«

»Mein – mein Lieblings-T-Shirt«, stammelte er merklich eingeschüchtert, weil er die ganze Szenerie hatte mit ansehen müssen.

Plötzlich schämte sich Jon Askil für seine Unbeherrschtheit vor dem Jungen; gleichzeitig wollte er ihm helfen, ihn aus Schwester Ingers kalten Klauen befreien.

»Und warum weinst du dabei?«, hakte Lene mit ihrer ruhigen, freundlichen Stimme nach.

»Weil der Fleck nicht rausgeht. Ich hab Tomatensaft gekleckert. Ich hab Angst, dass es jetzt kaputt ist und man das schöne Bild nicht mehr richtig erkennt ...«

»Er ist allein hier runtergegangen«, ergänzte Schwester Inger. »Ich habe ihn gerade gesucht und plötzlich treffe ich auf ihn hier.« Sie zeigte auf Jon Askil. »Was tut er hier überhaupt? Sie müssen diesen Irren hier herausschaffen, Frau Kommissarin, bevor er den Kindern etwas tut!«

»Ich würde niemals den Kindern etwas tun!«, brüllte Jon Askil sie an und hasste sich dafür, dass er schon wieder die Fassung verlor. »Niemals! Ich will sie vor dir schützen!«

»Jon Askil, jetzt hör schon auf–«

»Nein!« Er schüttelte Lenes Hand ab, die sie auf seine Schulter gelegt hatte. »Ich werde nicht aufhören, bis diese Frau für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wird! Wer weiß, vielleicht steckt sie ja bis zum Kragen in Liv-Gretes Entführung!«

»Frau Kommissarin, jetzt tun Sie doch was!«

»Bitte, beruhigen wir uns alle«, bat Lene, »wir–«

»Jon Askil ...«

Er erstarrte. Jetzt halluzinierte er ganz bestimmt. Denn wie sonst sollte Davids Stimme in diesen Keller kommen?

»Ist sie das?« Sein Mann stellte sich vor ihn und warf einen kurzen Seitenblick zu Schwester Inger.

Vollkommen verwirrt wandte sich Jon Askil an Lene, Bestätigung suchend, dass David wirklich da war. Sie nickte. »David. Was ... was tust du hier?«

  

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