Wenn die Berge singen

(Bergets Sånger 1)


 Ingmar ging hinüber in die Küche, wo sich vermutlich auch der zentrale Heizofen befand, und ließ Oscar allein im Wohnzimmer zurück.

Ich bin mit einem fremden Mann in sein Haus gegangen. In sein Haus in einem abgelegenen Dorf.

Dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, möglichst niemanden um Hilfe zu bitten. Und wenn, dann nur Frauen. Am besten Frauen mit Kindern. Von denen ging die geringste Gefahr aus.

Andererseits sind es nie fremde Menschen gewesen, die mir Böses getan haben. Am gefährlichsten sind doch die, die man zu kennen glaubt.

Er versuchte, die aufkeimende Panik mit rationalen Gedanken niederzukämpfen. Wenn dieser Ingmar Böses im Sinn gehabt hätte, dann hätte er ihm wohl keine Starthilfe gegeben. Es hätte schließlich funktionieren und Oscar einfach davonfahren können. Nein, er war schlicht und ergreifend hilfsbereit. Ganz sicher. Und welche Wahl hatte Oscar denn auch gehabt? Dass eine hilfsbereite Frau mit Kind vorbeigekommen wäre und sein Auto abgeschleppt hätte, war wohl eher unwahrscheinlich.

Der Duft von Kaffee zog durch das Haus, karamellig und beruhigend. Kaffeeduft erinnerte ihn immer an seine Mormor, an ihre Stube, in der die Dielen genauso geknarrt hatten wie hier, und ihr köstliches Gebäck.

»Milch und Zucker?«, rief Ingmar aus der Küche.

»Ja ... gerne. Viel Milch und zwei Stück Zucker, bitte.«

Kurz darauf kehrte sein mutmaßlicher Retter mit zwei dampfenden Tassen zurück. Seine Jacke hatte er inzwischen abgelegt; Oscar trug seine noch.

»Es wird gleich warm werden. Ich habe noch Hagebuttensuppe und Zimtbrötchen da, für nachher zum Essen.«

»Oh, das klingt lecker. Aber mach dir meinetwegen nicht so viele Umstände.«

»Das macht keine Umstände. Ich muss mir ja so oder so etwas zu essen machen, eine Person mehr macht den Kohl nicht fett.«

»Danke.« Oscar nahm seine Kaffeetasse entgegen und trank vorsichtig einen Schluck. Ingmar hatte recht, es wurde warm. Zögerlich zog Oscar seine Jacke aus.

»Du bist also einfach Richtung Norden losgefahren?«, begann Ingmar unvermittelt. Er klang etwas misstrauisch.

»Ja.«

»Warum?«

Oscar sah ihn an, während er nach einer Antwort suchte. Ingmar war ein hochgewachsener, drahtig-sportlicher Kerl, der kurze Vollbart fast schwarz, das bis auf wenige Millimeter geschorene Haar am Oberkopf sehr licht. In seinen grünlich-braunen Augen lag Wärme, aber das mochte täuschen. Oscar traute seiner eigenen Wahrnehmung schon lange nicht mehr.

»Wolltest du einfach mal dem Großstadttrubel entkommen?«, hakte Ingmar nach und lieferte ihm damit die passende Antwort.

»Ja, das kann man wohl so sagen. Einfach weg ... weg von allem.«

»Kann ich durchaus verstehen. Du bist allerdings mitten in den Winter gefahren.« Ingmar lachte leise. Irgendwie war dieses Lachen ansteckend.

»Ich hatte leider keine Zeit, noch Winterreifen aufzuziehen.«

»Die Zeit muss man sich unbedingt nehmen«, erwiderte Ingmar tadelnd. »Wir müssen dir welche besorgen. Egal, was nun mit dem Auto ist – so kannst du keinesfalls weiterfahren.«

Da hat er wohl recht.

»Wie ist es so, hier oben zu leben?«, erkundigte sich Oscar, weil das die Frage war, die ihn eigentlich beschäftigte.

»Extrem«, gab Ingmar nüchtern zur Antwort. »Zwanzig Tage im Jahr geht die Sonne gar nicht auf, fünfzig Tage lang geht sie im Sommer nicht unter. Die Temperaturen fallen im Winter gern unter die minus dreißig Grad. Zum Großeinkauf muss ich dreißig Kilometer fahren, zum Arzt und in die Apotheke auch. Im Sommer muss ich unzählige Kubikmeter Holz für den Winter zum Heizen vorbereiten, im Winter mich oft morgens erst mal aus dem Haus schaufeln. Der Alltag hier will gut durchgeplant sein. Aber versteh mich nicht falsch: Ich würde nirgendwo anders leben wollen. Ich mag die Abgeschiedenheit. Die Polarlichter, die wir hier im Winter fast täglich sehen. Die raue Natur und ihre Tierwelt. Die Kultur der Sámi in der Umgebung. So etwas bekomme ich in einer Großstadt im Süden nicht.«

Es war vor allem dieses eine Wort, das bei Oscar hängen blieb: Abgeschiedenheit. Einfach untertauchen, von der Bildfläche verschwinden, und ein unentdecktes Leben führen.

»Was arbeitest du hier in der Abgeschiedenheit? Wenn ich fragen darf ...«

»Ich bin Polizist.«

Oscars Muskeln reagierten auf diese Offenbarung mit vollkommener Starre. »Polizist«, wiederholte er tonlos.

»Genau. Wir haben zwei Ortschaften weiter eine kleine Polizeistation und sind für die umliegenden Dörfer zuständig. Ich kann nicht behaupten, dass wir allzu viel zu tun hätten. Es geht eher mal um Hausfriedensbruch, oder darum, dabei zu helfen, ein entlaufenes Tier einzufangen. Das Schlimmste, was hier in den letzten Jahren passiert ist, war ein dreijähriges Mädchen, das aus ihrem Elternhaus gelaufen und verschwunden war. Wir fanden sie glücklicherweise nach einer Stunde, unterkühlt, aber ansonsten wohlauf.«

Dass Ingmar Polizist war, machte die Situation für Oscar nicht eben einfacher. Er hatte triftige Gründe, Polizisten kein großes Vertrauen zu schenken. Gründe, für die Ingmar zwar nichts konnte, aber das änderte für den Moment nichts.

»Ich mach dann mal die Suppe warm.« Entschlossen schlug sich Ingmar auf die Schenkel, stand auf und verschwand wieder in der Küche. Wahrscheinlich wollte er ihrem schleppenden Gespräch entkommen.

Es tat Oscar leid, ihn zu behelligen. Nutzlos in seinem Haus herumzusitzen und seine Zeit, seinen Kaffee und sein Essen zu stehlen. Aber Ingmar hatte es ihm ja angeboten.

»Ich kann auch im Auto schlafen«, schlug Oscar vor, als Ingmar mit einem Tablett mit zwei dampfenden Schüsseln und einem Teller mit Zimtbrötchen zurückkehrte.

»Du möchtest wohl gern erfrieren? Du bist ja ein lustiger Kerl.« Ingmar stellte das Tablett ab.

Ein köstlich süßer Duft stieg in Oscars Nase. Dieses alte Haus mit all seinen Gerüchen und Geräuschen strahlte eine gewisse Geborgenheit aus. Als ob hier nie etwas Schlimmes passieren könnte. Weil alles Schlimme gar nicht erst hierher fand ...

 

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